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22.01.2014

Nachruf für Titus Heydenreich (14. Dezember 1936 – 23. Dezember 2013)

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Am 23. Dezember 2013, wenige Tage nach seinem 77. Geburtstag, ist Titus Heydenreich im Kreis der Familie gestorben. Für die Außenstehenden war das eine überraschende Nachricht, denn wir wussten nichts von der schweren Krankheit, die ihn am Schluss besiegte. Es ist nicht leicht, aus dem Gefühl der Trauer das Empfinden des Verlustes in Worte zu fassen. Ein Trost sind die Erinnerungen, die bleiben und die mit ihnen verbundene Dankbarkeit an den Lehrer und Menschen.

 

Ich habe meinen akademischen Lehrer am Ende des Grundstudiums der Iberoramerikanistik Mitte der achtziger Jahre kennen gelernt. Der Schüler von Walter Pabst hatte als Nachfolger von Gustav Siebenmann den Ruf an die Philosophische Fakultät II der Friedrich Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommen. Nach dem Studium der Romanistik und Germanistik in Freiburg, Berlin, Madrid und Paris promovierte er 1965 mit der Arbeit Tadel und Lob der Schiffahrt. Zur Nachwirkung einer Ambivalenz in den romanischen Literaturen (erschienen u. d. T. Tadel und Lob der Seefahrt. Das Nachleben eines antiken Themas in den romanischen Literaturen, Heidelberg 1970) bei Pabst, seinem lebenslang hoch geschätzten Lehrer, an der Freien Universität Berlin. In bewegter Zeit wechselte er an die Universität zu Köln, wo 1973 seine Habilitation mit der Schrift Culteranismo und theologische Poetik. Die "Collusión de letras humanas y divinas" (1637/1644) des Aragoniers Gaspar Buesso de Arnal zur Verteidigung Góngoras (Frankfurt am Main 1977) folgte. Nach der Erstberufung an die Universität Gießen (1974) fand er in Erlangen (1977) auf einem Lehrstuhl für Romanische Philologie (Iberoroamerikanische und galloromanische Philologie) seine definitive Wirkungsstätte. Ehrenvolle Rufe, auch ins Ausland (Köln 1986, Wien 1989), lehnte er ab, sehr diskret, zur Freude der Schüler und Studierenden am Institut.

 

Titus Heydenreich war ein hoch respektierter und doch sehr beliebter Lehrer, der mit seiner Aufgeschlossenheit für Neues stets überraschende Verbindungen herstellte, in der Vorlesung ebenso wie im persönlichen Gespräch. Die Belesenheit des bibliophilen Sammlers kannte keine Grenzen. Er nutzte die damit verbundene Kenntnis auch entlegener oder noch unbekannter Autoren nie zur Demonstration professoraler Überlegenheit, sondern es gelang ihm stets, wunderbar mühelos, uns mit seiner Neugierde anzustecken. Als Entdecker von Entdeckern begeisterte er uns für die Literatur und, wie wir zuweilen erst später bemerken sollten, für das Entdecken selbst, für jenen kindlichen Wissensdurst und den Forscherdrang, der eine Grundlage von Wissenschaft ist. Als ich ein Jahr vor Herrn Heydenreichs Emeritierung 2005 seinen Lehrstuhl in Erlangen verließ, hatte ich in gut zwei Jahrzehnten die Entfaltungsmöglichkeiten einer sich stark verändernden Romanistik kennen gelernt. Meine persönliche Erfahrung einer Führung, die Freiheit nicht nur toleriert, sondern fördert, ist sicherlich keine Ausnahme, sondern ein charakteristisches Merkmal seiner Persönlichkeit gewesen. Aufgrund dieser raren Großzügigkeit wurde das Erlanger Institut für Romanistik zu einem Ort des lebendigen Austauschs und zum Sprungbrett für etliche Berufungen, auch von Kollegen, die seine historisierende Betrachtung von Literatur nicht teilten. Ohne sich selbst vom Sog der fachlichen Entwicklung mitreißen zu lassen, ließ er seine Schüler und auch die zahlreichen in Erlangen Station machenden Kollegen im anschwellenden Strom des theoretischen Diskurses mitschwimmen. Er selbst blieb jedoch dem Primat der historisch ausgerichteten Philologie treu. „Lies und historisiere!“ wäre ein so nicht formuliertes, doch gelebtes Motto, seines Schaffens. Die historische Betrachtungsweise war für ihn ganz selbstverständlich vergleichend. Ein Romanist ist per se ein Komparatist, war seine Überzeugung, die in das auf Lesefreude beruhende Primat der Primärliteratur mündete. Besonders angetan hatten es ihm die „Verquickung“ und das „Junktim“. Heute erkennen wir darin die polysystemischen und plurilogischen Vernetzungen, die scheinbar von „Kommissar Zufall“ gesteuert, in ihrer Kontingenz die Frage nach dem Regelsystem oder, wie der Hispanist Heydenreich zu sagen pflegte, nach dem „libre albedrío“ und der Schicksalshaftigkeit aufwerfen. Die Situierung der Lektüre in den historischen Kontexten beinhaltete eine keinesfalls selbstverständliche, doch eine wegweisende Öffnung für interdisziplinäre Forschung.

 

Herrn Heydenreichs Erlanger Lehrstuhl war daher nichts weniger als die Basis für den weiten Horizont einer Gesamtromanistik, wie sie heute nicht mehr existiert. Sein Blick einer über den philologischen Tellerrand hinaus schauenden Wissenschaft ist indessen von ungebrochener Aktualitität. Die Italoromanische Philologie, eine in der Kindheit in Italien begründete Herzensangelegenheit, floss nicht nur bereichernd mit ein, sondern sie wurde über das „Italienforum“ und den von ihm mit Helene Harth gegründeten und herausgegebenen Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart zum Markenzeichen jenseits des definierten Stellenprofils. All dies sind Hinweise auf Einsatzfreude und Schaffenskraft, die in der Franken-Metropole, mit ihrem, wie es dem Weltenbürger Heydenreich manchmal scheinen wollte, „Phlegma“, für Wirbel sorgten. Der dynamische Charakter Heydenreich war nicht konfliktscheu. In der hierarchischen Welt der akademischen Selbstverwaltung entfaltete er als Dekan (1986-1990) seine kämpferische Seite.

 

Der Italianist des Herzens brachte als Entdecker der Entdecker auch die deutsche Lateinamerikanistik entscheidend voran. Seine jahrzehntelange Tätigkeit in der „Sektion Lateinamerika“ des heutigen „Zentralinstituts für Regionenforschung“, machte Erlangen zu einem international angesehen Standort interdisziplinärer Forschung. Die regelmäßigen internationalen Kongresse, das jedes Semester stattfindende „Lateinamerika-Kolloquium“ und die Publikation der Lateinamerika-Studien erforderten neben Offenheit, Einsatzfreude und Kooperationsfähigkeit auch Organisationstalent. Ein der Inquisition folgender thematischer Schwerpunkt und eine persönliche Leidenschaft war das auf die Gedenkveranstaltungen der „Entdeckung“ Amerikas 1492 konzentrierte Kolumbusprojekt, aus dem zahlreiche Publikationen hervor gingen, darunter auch drei Bände der Lateinamerika-Studien. Bei all den damit verbundenen Aktivitäten kam es ihm darauf an, gemeinsam mit den lateinamerika­nischen Wissenschaftlern und Schriftstellern einen Dialog auf Augenhöhe zu führen, mit dem Wissen des in der der klassischen Philologie beheimateten Romanisten, doch ohne die weit verbreitete Überheblichkeit einer als überlegen empfundenen Perspektive der Alten Welt. Bei den oft langen Gesprächen in seinem Büro im sechsen Stock klingelte ständig das Telefon. Die Gespräche führte Herr Heydenreich mit auserkorenen Kollegen – mit spitzbübischer Freude - auch auf Lateinisch. Er war gut vernetzt. Schreiben und Anfragen beantwortete er zügig, nicht selten versehen mit dem neuesten Sonderdruck, mit Kärtchen, Programmen oder Zeitungsartikeln, eigens zugeschnitten auf den jeweiligen Empfänger.

 

Als Student, Hilfskraft, Assistent, Doktorand, Habilitand und Kollege sind mir unzählige Szenen in Erinnerung, die trotz einer stets bewahrten professoralen Distanz den Menschen zum Vorschein bringen. Herr Heydenreich war ein anspruchsvoller und auch strenger Lehrer, der auf dieser verbindlichen Basis Vertrauen schaffte und Studierende und Schüler großzügig unterstützte. Die zahlreichen Gutachten und Empfehlungsschreiben erledigte er, ohne sich jemals zu beklagen, auch wenn der administrative Arbeitsaufwand schwer auf den Schultern lastete. Diese distinguierte und generöse Haltung prägte die Atmosphäre am Lehrstuhl, im Vorzimmer, in der Vorlesung, in den Seminaren und bei den regelmäßig stattfindenden Kongressen. Sie zeugt von einer über die wissenschaftlichen Grenzen hinausweisenden Menschlichkeit. Sie war sicher auch ein Grund für die zahlreichen Publikations- und Vortragseinladungen, denen er so gut es ging auch nach der Emeritierung folgte in Verbundenheit mit dem Erlanger Institut.

 

Der Romanistik bleiben ein umfangreiches, die Fächergrenzen und die literarischen Kanones sprengendes Gesamtwerk sowie das Beispiel eines über die Schnelllebigkeit des immer mehr von Moden getriebenen Wissenschaftsbetriebes erhabenen Kollegen und Lehrers, der im Bewusstsein der Vergänglichkeit gewirkt hat. Im Gespräch schweifte sein Blick zuweilen auf das über dem Gästesofa hängende Landschaftsgemälde; es zeigte einen Weg, der durch das enge Tor in die unendliche Tiefe der Zentralperspektive führt.

 

Roland Spiller

Goethe-Universität Frankfurt

Von:  Roland Spiller

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