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26.07.2012

CfA: "Die Grenzen der Narration im Bild (Sektion Bild-Wissen-Technik)"

  • Disziplinen: Medien-/Kulturwissenschaft, Weitere Teilbereiche
  • Sprachen: Sprachenübergreifend
  • Frist: 01.09.12

CfA: kunsttexte.de, Sektion „Bild – Wissen – Technik“, Ausgabe 1/13: „Die Grenzen der Narration im Bild“

 

„Heute sind Geschichten, was sie wirklich sind: oft ohne einen Beginn und ein Ende, ohne Schlüsselszenen, ohne einen Spannungsbogen, ohne Katharsis. Sie können aus Fetzen, aus Fragmenten gefertigt werden, so unausgewogen wie das Leben, das wir führen.“ (Zitiert nach: Pierre Billard: An interview with Michelangelo Antonioni. In: Brückle: 5 Faden tief, S. 128, In: Krüger, Klaus u.a. (Hg.): Das bewegte Bild. Fink, 2006)

 

Ohne Anfang und ohne Ende sind seine Filme genauso wie Jackson Pollocks Bilder für Antonioni ein Ausdruck zeitgenössischer Bildwelten, die vorsatzlose Unabgeschlossenheit und visuelle Metaphern jenseits eines Handlungsverlaufs implizieren. Beispiele für solche Bildwelten reichen in Antonionis Werk von den Sequenzen mit rauschendem Laub hinter und über den Protagonisten in „Blow Up“ und „L’ eclisse“ bis hin zu formalen Flächen-Tiefen-Spielereien bei der Eröffnung oder am Ende von Sequenzen.

 

Bilder, die sich narrativen Strukturen entziehen oder diese verändern, finden sich in den verschiedensten medialen Ausprägungen. Für die Fotografie hat Lars Blunck jüngst sogar behauptet, dass es sich bei der fototheoretischen Zuschreibung von Narrativität, die er insbesondere in Bezug auf inszenierte bzw. fiktionale Fotografien beobachtet (Blunck führt hier die fotokünstlerischen Positionen Walls, Shermans und Crewdsons ein, von denen oft behauptet wurde, ihre Bilder erzählten Geschichten), um einen Trugschluss handelt (vgl. Blunck, Lars: Fotografische Wirklichkeiten. In: ders. (Hg.): Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung – Fiktion – Narration, S. 9-36).

 

Für die bewegten Bilder des Kinos scheint die Funktion von Bildern als Elemente in narrativen Ordnungen weniger fragwürdig, bleibt jedoch keinesfalls undebattiert. Die Diskussion darüber, wie bewegte Bilder narrative Ordnungen brechen, hat sich filmtheoretisch als äußerst fruchtbar erwiesen. Nach Benjamin und mit Eisenstein ist es insbesondere der Schnitt und somit der Übergang zwischen den einzelnen Einstellungen, der den Film entscheidend prägt. So sind die bewegten Bilder des Kinos für Walter Benjamin Mittel, um Geschwindigkeit, Zerstreuung und Selbstentfremdung in Produktivkräfte umzuwandeln, die wiederum politisch und ästhetisch wirken können. Was heute wie eine Selbstverständlichkeit klingt, geht dennoch tiefer. Das Optisch-Unbewusste führt Benjamin als eine Zusatzkategorie ein: Es sollte etwas innerhalb des Bildrahmens sein. Die Kamera offenbart hierin ein Bild der Welt, das dem bloßen Auge verborgen bleibt. Es ist also eine dem Schnitt bzw. der Kombination mehrerer Bilder vorgelagerte Kategorie. Die Kamera selbst gerät somit in den Blickpunkt. Kamerafahrt, Großaufnahme, Zeitraffer und Zeitlupe sind Beispiele hierfür. Oberflächen werden dabei durchdrungen und neue, andere Sichtweisen ermöglicht, die im Anschluss mögliche narrative Eingriffe beeinflussen können.

 

Für Roland Barthes wiederum liegt das Filmische weder im Ablauf der Bilder noch in den Bewegungen der Kamera und auch nicht in der Montage. Zuerst einmal zeigt sich für ihn dieses Filmische dort, wo die Sprache aufhört, unterhalb der auf den Betrachter/die Betrachterin zueilenden Sinnschicht, wo eine Abstumpfung des Sinns erfahrbar wird. Dort, wo zwischen den narrativen Strukturen flüchtige Fragmente der Unzuordenbarkeit aufblitzen, jenseits offensichtlicher Sinnzusammenhänge, inmitten von Lücke und Paradox der seriellen Struktur, die auf eine somatische Erfahrungsebene des filmischen Bildes verweisen.

 

Martin Seel beschreibt Fälle ästhetischen Rauschens, wenn er von Bildsequenzen spricht: In diesen taucht eine Überfülle an Abläufen und Bewegungen auf, und zwar immer dann, wenn etwas seine Übersichtlichkeit, seine monoperspektivische und/oder seine sequentielle Ordnung aufgibt, z.B. durch Bewegung, und dergestalt in »Unübersehbarkeitszustände« gerät. Die Krise der Sinne nimmt in diesen Bildformen mit der Steigerung der Desorientierung in den so erzeugten Bildräumen zu. Fläche und Tiefe fallen zusammen und lassen sich manchmal nur unter zusätzlichem bewußtem Aufwand dem eigenen Sehen gegenüber wieder trennen. In den Momenten, wo diese Unterscheidung allerdings nicht aufrecht erhalten wird, kann die Rezeption eine andere sein. Das Auge tastet das Bild unvoreingenommen ab, nimmt seine Strukturen, Bildflächen und -tiefen durch die Desorientierung womöglich anders wahr – eben auch mit Hilfe der anderen Sinne. Eine Weise des somatischen Sehens kann damit einhergehen.

 

Laura Marks Begriff der haptischen Visualität erlaubt an dieser Stelle eine Vermittlung zwischen Bild- und Filmwissenschaft. Im Film ergeben sich mit Hilfe des bewegten und potenzierten Offs neue Aufmerksamkeitsschleusen für den Betrachter und die Betrachterin. Wie es die Lücke, das Schwarzbild, das Dazwischen für die Bewegung der filmischen Bilder braucht, so braucht auch das bewegte Sehen verschiedene Fokussierungen und deren Leerstellen, um einen Bildraum – und seine Sehmöglichkeiten auch jenseits der Erzählstruktur – zu erfassen Bei Marks ist es insbesondere der experimentelle Film, der Großaufnahmen von Haut in einem neu gefühlten Sehen erfahrbar werden lässt.

 

Hier hilft ein Blick in die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, die in den 1920ern die Gestalttheorie und ihre Fragen nach der Bildrezeption und Bildeinfühlung maßgeblich beeinflussen sollte: Sehen ist für Konrad Fiedler die Fähigkeit, mit dem Augeneindruck die räumliche Beschaffenheit der Natur abzulesen. Das Fiedlersche Fernbild wird bei Rudolf Arnheim im Kino zum bewegten Fernbild. In der Tiefenkonstruktion durch die Flächen hindurch wirkt die Bewegung mit und erreicht eine Annäherung im Sinne eines nah wirkenden Raumbildes, das nicht mehr nur ferne Distanzfläche ist. Die Bewegung führt so Taktilität in das Fernbild ein und erweitert es, ohne ihm jedoch seine Flächeneigenheiten zu nehmen. Mit Alois Riegl könnte man die Frage anschließen, wie hier die kunsthistorischen Kategorien der optisch-fernsichtigen und plastisch-nahsichtigen Eigenschaften neu verhandelt werden. Hier zeigt sich folglich ein fruchtbarer Anknüpfungspunkt zur heutigen bildrezeptorischen Debatte.

 

Wie treten in verschiedenen Medien die Grenzen der Narration ins Bild? Wie könnte Repräsentation jenseits von Deutung und Sinn aussehen, wenn es keine Vermittlung anhand eines erzählerischen Zusammenhangs gibt? Fehlt dabei dem jeweiligen Bildmedium vielleicht nur der erzählerische Zusammenhalt, aber noch lange nicht die Fähigkeit zur Repräsentation?

Wo werden Erzählstrukturen aufgelöst, womöglich um andere zu erschaffen? Und wie wird die formale Seite der Bildbetrachtung neu ins Zentrum gerückt? Wie wird man in bestimmten Bildern und Bildsequenzen dem eigenen Sehvorgang gegenüber bewusster und zugleich irritierter?

 

Für die nächste kunsttexte.de-Ausgabe der Sektion „Bild – Wissen – Technik“ sind wir auf der Suche nach Beiträgen, die die Beziehung zwischen Bild und Narration in den Blick nehmen. Diese können sich künstlerischen und wissenschaftlichen Beispielen genauso wie methodologischen Ansätzen widmen, die die angesprochenen Fragen und Thematiken aufwerfen und weiterdenken. Wir freuen uns über Beitragsvorschläge in Form eines Abstracts (max. 150 Wörter) bis zum 1. September 2012 an Tina Kaiser: kaiser(at)kunsttexte.de.

 

Von:  via arthist.org

Publiziert von: cs