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15.02.2010

CfP: "Atypische Narrative" – Tagung zu Figuren und Figurenlehren im 17. Jahrhundert

  • Ort: Konstanz
  • Disziplinen: Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft, Medien-/Kulturwissenschaft
  • Sprachen: Sprachenübergreifend
  • Frist: 31.03.10

Forschungsstelle „Signaturen der Frühen Neuzeit“

Lehrstuhl Prof. Dr. Rudolf Schlögl, Universität Konstanz

 

Termine:

Vorbereitungsworkshop: 24.-25.06.2010;

Haupttagung: 28.-29.10.2010.

Eingabefrist: bis 31.03.2010

 

An der Tagung „Atypische Narrative“ sollen mehr als nur historische Figuren im Zeitalter des Barocks behandelt werden. Ziel ist eine Reflexion über das Figurale als historisch-analytische Darstellungskategorie. Figurale Darstellung - so die Ausgangshypothese, die an der Tagung kritisch überprüft werden soll – bedeutet in der Frühen Neuzeit eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Beständigkeit und Variation. Die Reproduktion von Ordnung in Alltag und Diskurs geht mit Verschiebungen und Verrückungen einher. Kurzum, sie schafft Differenz. Indem Figuren solche Transformationen und Umbrüche einem Kontinuitätsprinzip unterstellen, dienen sie der Reproduktion einer symbolischen Ordnung, in der Dinge und Menschen ihren vorgeschriebenen Platz haben. Die Reproduktion braucht Zeit und die Zeit führt zur Differenzierung. Diese komplexe Zeitlichkeit lässt sich mit der christlichen Typologie begründen, die den historischen Ausgangspunkt für das neuzeitliche figurale Sprechen bildet. Möchte man ein theoretisch reflektiertes Konzept der Figur entwickeln, gilt es deshalb, das Verhältnis von Figur und Typologie präziser zu bestimmen.

 

Wie Erich Auerbach in seinem Aufsatz über die „figura“ beschrieben hat, erfährt die Semantik derselben im Mittelalter eine signifikante Umkodierung. Eine neue Bedeutung erhält „figura“ im Rahmen der christlichen Typologie, d.h. in der Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament, welche die Figuraldeutung leistet. Dort sorgt die Figur für zeitliche Korrespondenzen: „figura ist etwas Wirkliches, Geschichtliches, welches etwas anderes, ebenfalls Wirkliches und Geschichtliches ankündigen und darstellen soll“ (Auerbach 1967 [1938]). Das Wort „figura“ ist zunächst nichts anderes als eine Übersetzung des griechischen Wortes typos (Frye 1988 [1982]). Das Konzept der Figur dient der Herstellung einer historischen Differenz, die allerdings durch die Darstellung des Vorgängigen als Präfiguration des Nachherigen zugleich auch überblendet und bewältigt wird. Die Figuraldeutung interpretiert in der Gegenwart ein vergangenes Zeichen als Präfiguration einer Erfüllung, die ihm später zuteil werden soll. So zeichnet sich hinter einem vergangenen Ereignis die Figur eines kommenden ab. Anders als in der Antike, die zudem eine Vielzahl von Begriffen kannte, um das Vorausgehende mit dem Nachfolgenden zu vergleichen, stellt dieser Vergleich im Mittelalter eine kontinuierliche Beziehung zwischen dem Verglichenen her. Auerbach spricht deshalb vom Beginn eines historisch-zeitlichen Denkens. Die Typologese erfährt im Mittelalter eine zunehmende Ausdehnung ihres Gegenstandskreises: sie umfasst nicht mehr nur biblische Vergleiche, sondern zieht ausgehend von der Bibel auch Analogien zu Objekten der Naturgeschichte oder Ereignissen des antiken Mythos (Ohly 1979). Der anfänglich nur in der Bibelexegese gebräuchliche typologische Vergleich weitet sich damit zu einem eigenen übergreifenden Denkraum.

 

Auerbachs Aufsatz hat auch eine zeithistorische Dimension, die man fruchtbar machen kann, um dem Nachdenken über Figuren einen analytischen Rahmen zu geben. Es ist kaum ein Zufall, dass Auerbachs Aufsatz am Ende einer Konjunktur von Typologien in der Zwischenkriegszeit erscheint. Indem er die Figur behandelt, macht er auf die unterdrückte Zeitlichkeit im Zusammenhang mit dem Typus aufmerksam. Man kann die historische Darstellung der Bedeutungsgeschichte des Begriffs „figura“ deshalb auch als implizite Kritik an Typologien lesen, wie sie unter anderem Max Weber mit seiner Lehre von den Idealtypen aufgestellt hat (Weber 1972 [1922]; eine frühe historiographische Adaption von Webers Idealtypenlehre findet sich bei Elias 2002 [1969, basierend auf der Habilitationsschrift von 1933]; eine andere Typenlehre entwickelt Jünger 1981 [1932]). Auerbach unterläuft damit die Unterscheidung einer soziologischen von einer bibelexegetischen Typologie, wie man sie bis heute in den einschlägigen Wörterbüchern findet (vgl. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft). Gerade weil Figuren als zeitliches Differential dienen, eröffnen sie innerhalb des typologischen Denkens einen Spielraum, der auch das Atypische zur Darstellung kommen lässt und zwar in Form der Umwege von Figuren auf dem Weg zur typologischen Schließung.

 

Wie die Zwischenkriegszeit erlebt auch das barocke Zeitalter eine Konjunktur typologischen Denkens. Friedrich Ohly spricht davon, »daß das 17. Jahrhundert dem typologischen Denken in beiden Konfessionen noch einmal eine Blüte brachte« (Ohly 1988 [1982]). Entsprechend kennt der Barock eine Vielzahl von Figuren: den Prinzen des Fürstenspiegels, den Hausvater der Oikonomiken, den Marrano der Inquisition, den Melancholiker der Morallehren, das Monster der Naturgeschichte, die Fortuna der Emblematik. Die Massierung und Diversifizierung von Figuren im 17. Jahrhundert ist ein Zeitzeichen – gehört zu den Signaturen der Frühen Neuzeit; ihre Konjunktur ist Ausdruck einer sozialen und historischen Dynamik, die in den Figurenlehren zur Darstellung kommt und durch sie zugleich bewältigt werden soll. Die Verzeitlichung von Typologien, die in den Figuren und ihren Irrwegen zur Darstellung gelangt, kann als kennzeichnend für das bewegte 17. Jahrhundert begriffen werden. Figurale Darstellung stellt eine Form von Kontingenzbewältigung dar. Sie eröffnet einen Oszillationsspielraum innerhalb symbolischer Ordnungen, der die Einschreibung und Reflexion von Differenz ermöglicht.

 

Figurale Darstellung wird im Barock durch umfassende mediale, administrative und kulturelle Dispositive gesichert. So fällt das Register unter die figuralen Aufschreibetechniken, insofern es Menschen und Dinge zwingt, an einem vorgeschriebenen Ort wiederzukehren (Siegert 2006). Eine vergleichbare Funktion erfüllen auch Formulare (Campe 2003). Eine weitläufige Ratgeberliteratur, die von den Oikonomiken bis hin zu den Teufelbüchern reicht, aber auch politische Literatur wie die neozistischen Schriften von Lipsius umfasst (Oestreich 1989 [1954]), gibt Anweisungen, wie richtiges Rollenverhalten unter sich verändernden Umständen aussehen sollte (Hoffmann 1959; Beetz 1990). Im Rahmen des Romans ist es der Pikaro, dessen Lebenslauf als Rahmen dient, um eine Unzahl von Ereignissen und Episoden am Leitfaden einer Figur zu erzählen (Welzig 1963). Das Exemplarische geht in der Literatur nicht mehr einfach, wie in der aristotelischen Gattungspoetik vorgesehen, im Kategorialen auf. Figurales Denken vollzieht sich in Narrativen, die berichten, wie Abenteuer, Unglücksfälle und andere barocke »Glückswechsel« (Lachinger 2004) bewältigt werden. So entsteht im 17. Jahrhundert ein Denken in Potentialitäten, das als Atypisches miteingeschlossen wird. Figurale Darstellung gewährleistet, dass Menschen und Dinge auch unter veränderten Bedingungen noch als dieselben erscheinen; sie unterstellt deren Geschichte einem Identitätsprinzip.

 

Figuren liefern also über die Beschreibung von Ordnungen des Sozialen und des Wissens hinaus einen Beitrag zu deren Reproduktion. So möchte die Tagung sowohl nach den Figuren fragen, die im 17. Jahrhundert zwischen Altem und Neuem vermitteln, als auch nach den figuralen Verfahren, in denen dies umgesetzt wird: nach den Praktiken, Medien und Narrativen, welche die verlässliche Wiederkehr von Figuren ermöglichen, und die trotzdem dasselbe nicht dasselbe sein lassen.

Zu folgenden Themenschwerpunkten sind Beiträge denkbar:

Exemplarische Umkodierungen von Figuren im 17. Jahrhundert: Hausvater, Fortuna, Pikaro etc.

Figurale Aufschreibe- und Darstellungstechniken: Formular, Register, Emblematik etc.

Narratologien des Figuralen: Systematische Überlegungen zur Rolle von Figuren in der Überlieferung von Wissen und den damit zusammenhängenden Zeitkonzepten.

 

Die geplante Veranstaltung wird aus einem Vorbereitungsworkshop und einer Haupttagung bestehen. Am Workshop soll in Form von Kurzpräsentationen eine gemeinsame Grundlage für die Tagung erarbeitet werden. Eine Publikation in integrierter Form ist geplant. Vorschläge für Beiträge (max. 1 Seite) bis 31.03.2010 bitte an:

 

Robert Suter

Joel Lande

 

Angeführte Literatur:

 

Auerbach, Erich, Figura, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur romantischen Philologie, Bern/Zürich 1967 [Erstausgabe 1938], S. .

Beetz, Manfred, Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum, Stuttgart 1990.

Campe, Rüdiger, Barocke Formulare, in: Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Europa. Kultur der Sekretäre, Zürich/Berlin 2003, S. 79-98.

Elias, Norbert, Die höfische Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002 [Erstausgabe 1969; basierend auf der Habilitationsschrift von 1933].

Frye, Northrop, Typologie als Denkweise und rhetorische Figur [1982], in: Volker Bohn (Hg.), Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt am Main 1988, S. 64-96.

Hoffmann, Julius, Die »Hausväterliteratur« und die »Predigten über den christlichen Hausstand«, Weinheim/Berlin 1959.

Jünger, Ernst, Der Arbeiter [1932], in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 8, Stuttgart 1981.

Ohly, Friedrich, Typologische Figuren aus Natur und Mythus, in: Walter Haug (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978, Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien, Berichtsbd. 3).

Ohly, Friedrich, Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung, in: Volker Bohn (Hg.), Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt am Main 1988, S. 22-63.

Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Jan-Dirk Müller, Bd. 3 (P-Z), Berlin/New York 2003.

Siegert, Bernhard, Papiere und Passagiere. Schreibakte auf der Schwelle zwischen Spanien Amerika, München 2006.

Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972 [Erstausgabe 1922].

Welzig, Werner, Beispielhafte Figuren: Tor, Abenteurer und Einsiedler bei Grimmelshausen, Graz/Köln 1963.

Von:  Rudolf Schlögl

Publiziert von: Kai Nonnenmacher