CfP: Die Kunst der Selbstskizze. Die Gesellschaft im Licht des 'Panoramischen'
- Disziplinen: Literaturwissenschaft, Medien-/Kulturwissenschaft, Weitere Teilbereiche
- Sprachen: Französisch
- Frist: 20.09.11
Die Kunst der Selbstskizze. Die Gesellschaft im Licht des „Panoramischen“
Unter Leitung von
Nathalie Preiss (Université de Reims)& Valérie Stiénon (F.N.R.S - Université de Liège )
Interférences littéraires / Literaire interferenties, Nummer 8, Mai 2012
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen in ganz Europa Bände, die sich nach dem Modell des „Durch sich selbst skizziert“ gleichzeitig als satirische Sittenstudien und als Selbstporträts vorstellen. Sie erscheinen als Sammlungen, werden kollektiv verfasst und stellen eine Gesellschaft als Gesamtheit von Repräsentationen in Texten und Ikonen dar, die mit einer Typisierung der gesellschaftlichen Stände und Berufe assoziiert werden: der Arzt, die Grisette, die Pariser Gören, die Portierfrau, der Bürger, der Dichter, usw. Rückblickend hat man nach Walter Benjamin [Benjamin 1989] diese Literatur als „panoramisch“ bezeichnet, nach dem Muster solcher optischen Massenveranstaltungen wie den Panoramen und den Dioramen [Comment 1993].
Die Entwicklung dieser Literatur charakterisiert sich durch den wechselseitigen Einfluss der französischen, englischen, deutschen, österreichischen, spanischen und belgischen Skizzen, zu denen die Folgenden zählen: England and the English (London, Bentley, 1833), Paris ou le Livre des Cent-et-un (Paris, Ladvocat, 1831-1834), Les Français peints par eux-mêmes (Paris, Curmer, 1842), La Grande Ville (Paris, Bureau Central des Publications nouvelles, 1842-1843), Le Diable à Paris (Paris, Hetzel, 1845-1846), Les Belges peints par eux-mêmes (Bruxelles, Raabé, 1839), Berlin und die Berliner (Berlin, Klemann, 1840-1841), Wien und die Wiener (Pesth, Heckenast, 1844, in Sammlungen ab 1841) und Los Españoles pintados por sí mismos (Madrid, Ignacio Boix, 1843). Die französischen Physiologies [Preiss 1999], der spanische costumbrismo [Montesinos 1960], das Generationenporträt in Deutschland und Österreich [Oettermann 1980] sowie die englische Skizze [Sha 1998] bilden unterschiedliche Subgattungen dieser Literatur, die die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts auf dem Weg zur Moderne etabliert, indem sie ihre Originalität und spezifische Besonderheit behauptet.
Diese soziographischen Skizzen gestalten die Sitten einer europäischen Gesellschaft, die mit der Entwicklung der romantischen Strömungen und dem Aufstieg der Nationalitäten zusammenfällt, so dass diese Skizzen bei Gelegenheit die Idee der Nation reflektieren. In dieser Hinsicht verkörpert diese Literatur im Kontext der Entwicklung der wichtigsten Geisteswissenschaften und der Entstehung der großen und kleinen Presse spezifische politische und ideologische Fragen, in einer Zeit als die ersten großen sozialen Untersuchungen lanciert werden [Leclerc 1979]. So erscheint das Verzeichnis von Ethnotypen, welches diese Selbstbildnisse von Völkern als Nationen ausbildet als eine entscheidende Quelle für die historischen und soziologischen Kenntnisse in dieser Zeit.
Was das literarische System angeht, charakterisiert sich diese Epoche durch eine allmähliche Spezialisierung der wissenschaftlichen Diskurse. Der Bereich des „Literarischen“, zu dem diese Diskurse bis dahin gehörten, definiert sich neu auf Grund der Entwicklung der Naturwissenschaften und der Entstehung der Fächer, die man später „Geisteswissenschaften“ nennen wird. In diesem Zusammenhang reflektiert sich die Literatur des Panoramen mit Bezug auf aber auch in der Abgrenzung von wissenschaftlichen Modelle [Carlino& Wenger 2007]. Ein wichtiger Bestandteil dieses Korpus ist terminologisch und konzeptuell aus den Medizinwissenschaften entnommen (« Physiologies » in Frankreich ; « Anatomy » in England, nach dem Modell der Anatomy of Melancholy von 1621, die zwischen 1800 und 1830 oft neu ediert wurde), sowie auch aus dem Bereich der Hygiene (« Pathologie » als Titel von kurzen deskriptiven Monographien). Diese Benennungen bestimmen generische Kategorien und Schreibmodelle, die dazu führen, dass die Stelle der Literatur in sämtlichen Diskursen und Wissensmodellen der Zeit neu berücksichtigt wird. Auf diese Weise wird ihre historische Evolution als kulturspezifische Produktion in einer Gesellschaft, die sich auf dem Weg zur Industrialisierung befindet, besser angenähert.
Das vorliegende Projekt beabsichtigt, die laufende Forschung, die sich diesem trotz erster Pionierstudien [Preiss 1999 ; Diaz 2004 ; Lauster 2007] und bestehender Verzeichnisse [Lacombe 1887] noch wenig bekannten Korpus widmet, systematisch und international aufzubauen. Die Literatursoziologie bietet wichtige Werkzeuge, um die gesellschaftliche Verankerung dieser Produktionen, die in der Konstellation der Wissensdiskurse ein originelles Ganzes darstellen, zu evaluieren. Ein solches Forschungsprogramm ist Teil der Erneuerung der Studien zu den Beziehungen zwischen Literatur und Journalismus [Chollet 1983 ; Thérenty & Vaillant 2005] sowie zwischen Literatur und Wissenschaften, wie nämlich aus der Epistemokritik [Pierssens 1990] hervorgeht.
Angesichts der besonderen Natur des Forschungsgegenstandes, ist es notwendig, dass dieser in plurimethodologischer Hinsicht untersucht wird. Die sprachlich-poetologische Annäherung erlaubt es, über die Diversität der Textverfahren, die die generische Kategorie des „Durch sich selbst Skizzierten“ subsumiert, zu berichten: journalistischer Mikrobericht (Chronik, Sittenartikel), Skizze, Bild, Scherenschnitt, Pathologie, Physiologie, Kodex, Art de, parodisches Pantheon, usw. Die epistemokritische Annäherung hebt die produzierten oder ambitionierten Kenntnisformen, mit denen diese Bände assoziiert werden (Ethnographie, Soziologie, Ökonomie, Anatomie, medizinische Hygiene), hervor. Die komparatistische Annäherung wird über die Einflüsse und Transfers auf europäischer Ebene berichten; unter anderem wird sie die vermittelnde Rolle, die die editorischen Projekte gespielt haben, untersuchen und die sprachlichen Nachahmungsentwürfe wie Los Españoles pintados por sí mismos, von den Français peints par eux-mêmes ausgehend, berücksichtigen.
Um diese interdisziplinäre Logik zu verwirklichen und um die Nebeneinanderstellung von monographischen Artikeln zu vermeiden, wird eine gemeinsame methodische Achse angeboten: Es handelt sich nicht nur um die Entstehung und Konstituierung des Anderen als Anderen in der Produktion jedes dieser Länder, sondern auch um das Bloßlegen der Bildung und Zirkulation gewisser Modelle und Motive von einem Werk zum anderen, über die nationalen Grenzen hinaus.
Die Zeitschrift Interférences littéraires – Literaire interferenties definiert ihren wissenschaftlichen Gegenstand als die Studie des literarischen Diskurses gleichzeitig in theoretischer und historischer Perspektive, auch hinsichtlich der Interaktionen mit anderen wissenschaftlichen Diskursen und Denkmustern. Sie verfügt über einen internationalen mehrsprachigen wissenschaftlichen Beirat für die Auseinandersetzung mit diesem Korpus in der Diversität seiner nationalen Erscheinungen.
Vorschläge von ca. 350 Wörtern werden vor dem 20. September 2011 erwartet und sind an folgende Adressen zu richten: blaguezac@wanadoo.fr, V.Stienon@ulg.ac.be und david.martens@arts.kuleuven.be. Die Ergebnisse der Auswahl werden den Autoren ab dem 20. Oktober 2011 mitgeteilt. Abgabetermin der ersten Fassung der Texte ist der 31. Januar 2012.
www.interferenceslitteraires.be/node/101
Vorläufige Bibliographie
Adburgham Alison (1983), Silver Fork Society. Fashionable Life and Literature from 1814 to 1840, London, Constable.
Anselmini Julie (2009), « Physiologies : le journaliste et la grande ville », dans Durand Pascal& Mombert Sarah (dir.), Entre presse et littérature. Le Mousquetaire, Journal de M. Alexandre Dumas (1853-1857), Genève, Droz, pp. 155-177.
Benjamin Walter (1989), Paris, capitale du xixe siècle : le livre des passages, traduction de Jean Lacoste, Paris, Éditions du Cerf.
Carlino Andrea& Wenger Alexandre (dir.) (2007), Littérature et médecine. Approches et perspectives (xvie-xixe siècles), Genève, Droz, coll. « Recherches et rencontres », vol. 24.
Chollet Roland (1983), Balzac journaliste. Le tournant de 1830, Paris, Klincksieck.
Cohen Margaret (1995), « Panoramic Literature and the Invention of Everyday Genres », dans Charney Leo et Schwartz Vanessa R. (dir.), Cinema and the Invention of Modern Life, Berkeley, Los Angeles et Londres, University of California Press, pp. 227-252.
Comment Bernard (1993), Le xixe siècle des panoramas, Paris, Adam Biro.
Diaz José-Luis (dir.) (2004), Les Français peints par eux-mêmes, séminaire de recherches sur la littérature panoramique de l’équipe « Littérature et civilisation du XIXe siècle » de l’université Paris 7-Denis Diderot (31 janvier 2004), Paris, Maison de Balzac [actes non publiés].
Lacombe Paul (1887), Bibliographie parisienne. Tableaux de moeurs (1600-1880), Paris, Rouquette.
Lauster Martina (2007), Sketches of the Nineteenth Century. European Journalism and Its Physiologies, 1830-1850, Basingstoke, Palgrave Macmillan.
Le Men Ségolène (2010), « Le panorama de la grande ville : la silhouette réinventée » dans Pour rire ! Daumier, Gavarni, Rops. L’invention de la silhouette, catalogue de l’exposition au Musée Félicien Rops de Namur (24 septembre 2010 – 9 janvier 2011) et au Musée d’Art et d’Histoire Louis-Senlecq de L’Isle-Adam (9 avril – 18 septembre 2011), Paris, Somogy éditions d’art, pp. 21-156.
LeclercGérard (1979), L’Observation de l’homme. Une histoire des enquêtes sociales, Paris, Seuil.
Lefay Sophie (dir.) (2009), Lectures du panorama, Revue des Sciences Humaines, n° 294, Villeneuve d’Ascq, Presses universitaires du Septentrion.
Montesinos José (1960), Costumbrismo y novela. Ensayo sobre el redescubrimiento de la realidad española, Berkeley, University of California Press.
Oettermann Stephan (1980), Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Francfort, Syndikat.
Pierssens Michel (1990), Savoirs à l’oeuvre. Essais d’épistémocritique, Villeneuve d’Ascq, Presses Universitaires de Lille.
Preiss Nathalie (1999), Les Physiologies en France au xixe siècle. Étude historique, littéraire et stylistique, Mont-de-Marsan, Éditions InterUniversitaires.
ShaRichard (1998), The Visual and Verbal Sketch in British Romanticism, Philadelphia, University of Philadelphia Press.
Thérenty Marie-Ève& Vaillant Alain (2005), Presse& Plumes. Journalisme et littérature au XIXe siècle, Paris, Nouveau Monde.
Thérenty Marie-Ève (2009), « Pour une poétique historique du support », Romantisme, n° 143, pp. 109-115.
Publiziert von: Barbara Ventarola