Tagungen > Tagungsausschreibung

27.03.2013

CfP: Versteckt - verirrt - verschollen. Reisen und Nichtwissen

  • Ort: Trier
  • Beginn: 20.09.13
  • Ende: 21.09.13
  • Disziplinen: Literaturwissenschaft, Medien-/Kulturwissenschaft
  • Sprachen: Sprachenübergreifend
  • Frist: 31.05.13

Die geplante Tagung nimmt die Kulturtechnik des Reisens als ein spezifisches Verfahren der Wissensproduktion in den Blick, das auf konkreten epistemischen Praktiken wie etwa dem Landnehmen, Sammeln, Messen oder Kartographieren beruht und so die Erfassung von Raum und die Erweiterung von Wissen miteinander verbindet. Im Fokus stehen solche Reisen, die eine Begegnung mit dem Neuen und Unbekannten ermöglichen und somit von Beginn an auf eine Erweiterung etablierter Wissensbestände zielen. Forschungs-, Abenteuer- und Entdeckungsreisen etwa werden nicht allein über geographische Grenzen, sondern auch über Wissensgrenzen hinweg unternommen und etablieren auf diese Weise eine epistemische Praxis, die zwischen Bekanntem und Unbekanntem vermittelt.

 

Indem Reisen jedoch nicht allein auf Wissen, sondern auch auf die Erlebnishaftigkeit sinnlicher Erfahrungen zielen, sind sie als Ereignisse zu konzeptualisieren, deren Einmaligkeit in der medialen Repräsentation abhanden zu kommen droht: Zwischen der Performanz der Reise selbst und ihrer referenziellen Medialisierung scheint eine Kluft aufzureißen, die selbst zum Gegenstand der Wissensproduktion wird. Denn nur diejenigen Berichte und Ergebnisse einer Reise, die nach der Rückkehr in die Archive des Wissens eingeordnet werden können, werden epistemologisch relevant. Ungenannt verbleiben hingegen ausgegrenzte Wissensbestände – ein Reisewissen mithin, das Dimensionen zu besitzen scheint, die mit den etablierten kulturellen Formen des Wissens nicht kompatibel sind oder das den unabdingbaren Selektionsprozessen der Wahrnehmung zum Opfer fällt. Jede Reisedarstellung erscheint somit als konstitutiv nachträglich und unwiederholbar und verweist auf diese Weise immer schon auf eine Ebene des Nicht-Wissens.

Auch wenn epistemische Reisen häufig im Dienste eines etablierten, institutionalisierten Wissenssystems durchgeführt werden, bedeuten sie demzufolge immer auch eine bewusste Abkehr von diesem Wissen und eine Konfrontation mit seinen Grenzen, mit dem Nicht-Wissen in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen. In kulturwissenschaftlichen Theorien wird der Zusammenhang von Wissen und Nicht-Wissen einerseits als konstitutiv beschrieben, wobei das Nicht-Wissen als das notwendige „Abjekt von gesetzten Ordnungen“ (Bies/Gamper 2012) definiert wird. Andererseits werden in vielen modernen Wissenschaften, etwa in der Psychoanalyse, der Diskursanalyse und der Trauma- und Gedächtnisforschung, Bereiche des Nicht-Wissens wie das Unbewusste, der Wahnsinn, das Nicht-Sagbare, Vergessene, Tabuisierte oder Verdrängte benannt und theoretisch wie empirisch erforscht. Für die Praxis des Reisens, so die Ausgangsthese der Tagung, erscheinen solche Felder des Nicht-Wissens als konstitutive, ja unabdingbare Bestandteile einer Integration des Neuen. Das Nicht-Wissen macht dabei die Legitimationsstrukturen des etablierten Wissens und seine stets kontextgebundene und notwendigerweise selektive Funktionsweise sichtbar.

 

Nicht-Wissen im Zusammenhang mit Reisen manifestiert sich auf unterschiedlichen Ebenen: Zunächst kann es alle Formen von Unkenntnis, Dummheit und Ignoranz bezeichnen (Geisenhanslüke 2011), die etwa bei der Planung oder Ausführung eines Reiseprojektes zum Tragen kommen können. Außerdem bezieht es sich auf jenen Raum, der sich jenseits der Grenzen des Bekannten befindet und über den nur Vermutungen bestehen. Hier artikuliert es sich als hypothetisches Wissen, das Thesen und Annahmen darüber aufstellt, was noch nicht gewusst wird, und das somit selbst eine Grenze zwischen Wissen und Nicht-Wissen zieht. Diese Form des Nicht-Wissens referiert in erster Linie auf nicht bewiesenes Wissen, das jedoch gegenüber den bereits gesicherten Wissensbeständen als generell anschlussfähig vorgestellt wird. Es kann jedoch auch auf einen Bereich jenseits des generell Wissbaren verweisen, etwa auf die Grenzen des Universums, der Sinne, der Sprache oder des Bewusstseins. Ferner kann Nicht-Wissen auch in Form eines anderen Wissens zutage treten, als Artikulation ausgegrenzter, inoffizieller, illegitimer, fremder oder als defizitär definierter Wissensordnungen, die auch in ihrer Form grundlegend von den kanonisierten Wissensbeständen abweichen. Es entsteht als Resultat eines paradigmatischen Wandels oder einer diskursiven Abgrenzung, die Akteure des Wissens vornehmen, um ihre Wissensbestände gegenüber ‚falschem‘ Wissen zu legitimieren (Gugerli u.a. 2009). Gerade im Zuge von Reisen können solche anderen Wissensformen jedoch unvermutet neue Bedeutung erlangen, können durch die Konfrontation mit ihnen die ‚blinden Flecken‘ des etablierten Wissens, etwa die Machteffekte und Unterdrückungsmechanismen der eigenen Diskursordnung, sichtbar werden. Reisen, die direkt auf eine Konfrontation mit anderem, noch nicht legitimiertem Wissen zielen, nehmen keine sukzessive Erweiterung des kanonisch anerkannten Wissens vor, sondern wollen dieses generell infrage stellen und durch alternative Wissensformen ergänzen, irritieren, unterlaufen oder erneuern.

 

Die Tagung sucht den Zusammenhang von Reisen und Nicht-Wissen anhand der drei konkreten Figuren „versteckt“, „verirrt“ und „verschollen“ zu verdichten, die jeweils unterschiedliche der angedeuteten Aspekte hervortreten lassen. Mit ihnen verbinden sich zugleich drei verschiedene Zeit-Modi des Nicht-Wissens, das sich als zukünftiges (versteckt) oder vergangenes Wissen (verschollen) oder als gegenwärtige Abwesenheit des Wissens (verirrt) zu erkennen geben kann.

1. Reisen können von vornherein unternommen werden, um sich Bereichen des ausgegrenzten oder ‚anderen‘ Wissens zu nähern. In diesem Fall beschreiben sie eine Abkehr von oder Flucht aus dem etablierten Wissenssystem, das etwa als zu veraltet oder restriktiv wahrgenommen wird. Zentral ist hier die Suche nach einem wertvolleren, „versteckten“, verborgenen oder vermeintlich ausgelöschten Wissen, das einen epistemologischen Bruch, eine Veränderung der gesamten Wissenskultur auszulösen vermag. Solche Wissensformen können der heilige Gral, das ersehnte El Dorado oder arkane Weisheiten alter Kulturen sein. Das versteckte Wissen liegt nun nicht mehr einfach jenseits der Grenzen des Bekannten, es verbirgt sich unterhalb der etablierten Wahrheiten, in geheimen Archiven, im codierten ‚Subtext‘ einer alten Schrift oder in den ‚Tiefen’ der eigenen Psyche. Insofern seine Wiederentdeckung einen Wandel der bestehenden, offiziellen Wissenskultur herbeiführen soll, ist es wesentlich auf die Zukunft bezogen. Das andere Wissen, z.B. in Form von Verschwörungs- und Geheimwissen, magischen Praktiken oder Zukunftsvisionen, ist hier also der Anlass für die epistemische Reise, die freilich auch eine virtuelle oder imaginäre sein kann.

2. Unter dem Schlagwort „verirrt“ werden Wissensreisen in den Blick genommen, die von ihrem ins Auge gefassten Ziel abgekommen und deren ‚apodemische‘ Strategien des Umgangs mit dem Nicht-Wissen gescheitert sind. An die Stelle der geplanten Reise tritt die Improvisation des Umwegs und damit eine neue, weniger zielgerichtete Bewegung, die andere Fragen und Probleme aufwirft und zugleich eine Konfrontation mit dem ‚anderen‘ Wissen nach sich zieht. Die Verirrten erleben diese Begegnung mit dem Unbekannten und mit ihrem eigenen Unwissen in einer Gegenwart, die nicht mehr nur transitorischer Natur ist, sondern die die ursprünglichen Pläne und das vorweggenommene Ziel radikal infrage stellt. Das verirrte Subjekt kann nicht länger (mit seinem Wissen) den Raum dominieren, vielmehr wird es umgekehrt von ihm beherrscht, oder es muss seine eigene Position in einem offenen System bzw. innerhalb einer entgrenzten Umwelt neu bestimmen. Auch wenn die Rückkehr zur eigentlichen Route oder die Ankunft am geplanten Ziel doch noch gelingt, müssen die Ergebnisse der Reise nach einem längeren Umweg daher oft neu kontextualisiert und mit der gewohnten Ordnung in Übereinstimmung gebracht werden. Notwendig wird ein pragmatisches Improvisieren als Form des Umgangs mit Kontingenz und Nicht-Wissen, das eine Integration des Nicht-Wissens in die Horizonte des Wissens ermöglicht.

3. Besonders dann, wenn Reisende nicht zurückkehren, wenn sie „verschollen“ bleiben, werden Thesen und Vermutungen über mögliche Ursachen aufgestellt – an welcher Stelle die Planung nicht ausreichte, welche Gefahren nicht einkalkuliert wurden, welches Nicht-Wissen den Ausschlag für das Scheitern ihrer Mission gab oder ob das Verschwinden absichtsvoll und inszeniert war. Der Verschollene und sein verloren gegangenes Wissen liegen in einer unerreichbar gewordenen Vergangenheit, die als diskursive Leerstelle eine Produktion neuen hypothetischen Wissens antreibt. Denkbar sind auch Reisen, die keine Spuren hinterlassen, obwohl sie den Anspruch auf einen epistemischen Bruch markieren. Sie selbst können über lange Zeiträume hinweg als „verschollen“ gelten, weil sie aus dem Gedächtnis verschwunden sind und erst retrospektiv, in historischer oder literarischer Rekonstruktion, auf ihren Ablauf und ihre möglichen Wirkungen befragt werden. Im Fokus steht hier also das Verhältnis von archiviertem und nicht-archiviertem Wissen, von kulturellen und kommunikativen Gedächtnissen, Oralität und Medialität und dem von ihnen Ausgegrenzten und Vergessenen, das unterschwellig dennoch insistiert.

 

Erbeten werden Vorträge zu epistemischen Reise-Ereignissen, seien sie literarisch, wissenschaftlich, religiös oder anders motiviert. Übergreifend fragt die Tagung nach der theoretischen Fassbarkeit und der konstitutiven Bedeutung des Nicht-Wissens für das Reisen, nach seinen produktiven oder hemmenden Funktionen, ästhetischen Markierungen und konkreten Erscheinungsformen in unterschiedlichen Medien, nach seiner Integration in die Diskurse des Wissens sowie nach seinem historisch ablesbaren Wandel. Der Fokus kann dabei auf den Akteuren und Praktiken des Reisens, auf den Objekten, die sie hervorbringen und in Bewegung versetzen, oder auf den diskursiven, medialen und ästhetischen Bedingungen und Traditionen des Reisewissens liegen. Untersuchungsgegenstand können etwa apodemische Abhandlungen oder Memoiren, wissenschaftliche Reiseberichte, Korrespondenzen oder Tagebücher, Skizzen, Fotografien, Werke der bildenden Kunst, Reiseromane und -filme oder die Zeit- und Weltraum-Reisen des Science-Fiction-Kinos sein. Die Reise muss dabei nicht notwendig im geographischen Raum stattfinden, vielmehr wird die Figur der Reise selbst als ein Mechanismus der Verräumlichung des Wissens begriffen, womit auch andere Wissensräume ins Blickfeld treten können, in denen Grenzen zwischen Wissen und Nicht-Wissen gezogen werden.

 

Abstracts von maximal 500 Wörtern inklusive einiger kurzer bio-bibliografischer Angaben senden Sie bitte bis zum 31. Mai 2013 an folgende Adresse: hkfz@uni-trier.de Kosten für Reise und Unterkunft werden vom HKFZ erstattet. Im Anschluss an die Tagung ist eine Publikation geplant.

 

Literatur:

Michael Bies/Michael Gamper (Hg.): Literatur und Nicht-Wissen. Historische Konstellationen 1730–1930, Zürich 2012.

Achim Geisenhanslüke: Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens, München 2011.

Hans Adler/Rainer Godel (Hg.): Formen des Nichtwissens der Aufklärung, München 2010.

David Gugerli u.a. (Hg.): Nichtwissen, Zürich 2009 (= Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte, Bd. 5).

 

Von:  Matthias Hennig

Publiziert von: RZ