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17.02.2011

Int. Sommerakademie: "Die 'Erste Kulturwissenschaft' und ihr Potential für die Gegenwart", Zentrum für Literatur und Kulturforschung (ZfL) Berlin

  • Ort: Berlin
  • Beginn: 10.07.11
  • Ende: 15.07.11
  • Disziplinen: Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft, Medien-/Kulturwissenschaft
  • Sprachen: Französisch, Portugiesisch, Spanisch, Weitere romanische Sprachen, Sprachenübergreifend
  • Frist: 15.03.11

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts arbeiteten Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen an der Überschreitung des "Gebietscharakters" (Benjamin) ihrer Disziplin und begründeten ein Feld, das sich aus dem Blick heutiger kulturwissenschaftlicher Perspektiven als 'Erste Kulturwissenschaft' darstellt. Ein Neurologe wie Sigmund Freud, ein Kunsthistoriker wie Aby Warburg, Philosophen wie Ernst Cassirer und Helmuth Plessner, Soziologen wie Max Weber und Georg Simmel, Literaturwissenschaftler wie Walter Benjamin und Erich Auerbach entwickelten jenseits des soeben verfestigten Gegensatzes von Natur- und Geisteswissenschaften ein Verständnis solcher kulturellen Phänomene, die sich nicht ins Register der Gegenstände konventioneller Fachwissenschaften fügen. Motiviert durch die Entdeckung faszinierender Korrespondenzen zwischen den säkularen europäischen Kulturen und dem Bild sogenannter primitiver Kulturen in den Beschreibungen der aufstrebenden Ethnologie und Anthropologie, stand das Interesse am Nachleben und Fortwirken urgeschichtlicher, antiker, mythischer und religionsgeschichtlicher Bedeutungen in der Moderne im Vordergrund – und damit der Ritualcharakter kultureller Handlungen ebenso wie die affektive Dimension des Sozialen und die magischen Momente von Artefakten und Medien. Wurde diese Arbeit an einer umfassenden kulturwissenschaftlichen Epistemologie durch die Nazis abrupt unterbrochen, so ist auffällig, wie weitgehend diese 'Erste Kulturwissenschaft' um 1900 im deutschsprachigen Raum von jüdischen Wissenschaftlern geprägt worden ist.

 

Die Bedeutung dieser 'Ersten Kulturwissenschaft' für die gegenwärtige und zukünftige Entwicklung kulturwissenschaftlichen Arbeitens liegt zum einen in den neu erschlossenen Gegenstandsbereichen, die gerade im Zeichen aktueller Entwicklungen eine zentrale Rolle spielen: der erweiterte Bildbegriff Warburgs im Zeichen des ‚pictorial turn’, die religionsgeschichtlichen Untersuchungen Webers und Benjamins im Zeichen des sich abzeichnenden 'religious turn',die biologisch grundierte 'Philosophische Anthropologie' Plessners im Zeichen der Konjunktur der Lebenswissenschaften etc. Dabei zeigt gerade der Blick auf die Formationsphase der Kulturwissenschaft um 1900 eine Fülle von interessanten Konzepten und Problemen, die später im Zuge des Übergangs zur disziplinären Normalwissenschaft der Soziologie, Psychoanalyse etc. teilweise verloren gegangen sind.

 

Darüber hinaus ist die 'Erste Kulturwissenschaft' in epistemologischer Hinsicht interessant, weil darin 'Kultur' nicht als etwas Gegebenes verstanden wird; vielmehr sind ihre Studien durch eine ständige Reflexion der eigenen Methodik, Begrifflichkeit und deren Gegenstandsbezug begleitet. Und gerade die anhand der genannten Autoren zu studierende Entwicklung von Wissensformen jenseits der Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften ist für eine Klärung des Selbstverständnisses heutiger kulturwissenschaftlicher Forschung von besonderer Bedeutung, auch wenn die historischen und theoretischen Grundannahmen der Kulturwissenschaft um 1900 selbst in ihrem damaligen wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang gesehen werden müssen. Vor allem wird zu diskutieren sein, inwiefern die zahlreichen Debatten über das Verhältnis historischer und systematischer Methoden heute relevant sein kann für die kulturwissenschaftliche Arbeiten, die keine neue ‚Einheitswissenschaft‘ begründen wollen, sondern sich den blinden Flecken und Grenzbereichen disziplinären Wissens widmen. Dabei halten die oft unabgeschlossenen Projekte einiger Autoren, ihre Versuche, die das grenzüberschreitende Wissen in neuer Form als Ganzes zur Darstellung zu bringen, einen wertvollen Erfahrungsschatz für die Reflexion methodischer Möglichkeiten und Schwierigkeiten bereit.

 

Die 'Erste Kulturwissenschaft' zeichnet sich zudem durch eine spezifische Begriffspolitik und -poetik aus, die paradigmatisch für den Charakter kulturwissenschaftlichen Wissens ist. Als 'Grenzgänger' bereits etablierter Wissenssysteme übertragen die Vertreter der 'Ersten Kulturwissenschaft' zentrale Kategorien und Konzepte von eingeführten Wissensfeldern auf andere Bereiche. Zentrale Termini wie ‚Symbol‘, ‚Wert‘ oder ‚Trieb‘ sind von vornherein als überdeterminiert gedacht und überschreiten die Grenze verschiedener Medien (Wort und Bild) und unterschiedlicher Gegenstands- und Wissensbereiche (Ethik und Ökonomie, Mechanik und Psychologie); für einige ihrer Diskurse und Forschungsprogramme, wie etwa die ‚Politische Theologie‘ oder die ‚Entzifferung von Bildern‘, sind solche Übertragungen, Verschiebungen und Verdichtungen konstitutiv. An ihnen lässt sich eine Metaphorologie kulturwissenschaftlicher Begriffe entwerfen, die eine unverzichtbare Rolle einnimmt in der Epistemologie historischer Kulturwissenschaften.

 

Die Erinnerung an die ‚Erste Kulturwissenschaft’ erscheint heute umso wichtiger, als die aktuelle Rhetorik der verschiedenen ‚turns’(performative, iconic, practical) die gegenwärtige kulturwissenschaftliche Arbeit nicht selten dem Verdacht aussetzt, bloßen Theoriemoden zu folgen. Eine historische Fundierung ihrer Perspektiven und Methoden vermag den aktuellen Debatten die notwendige Tiefenschärfe zu geben und ermöglicht es, über die Spezifik kulturwissenschaftlichen Wissens zu reflektieren. Über die oben erwähnten Aspekte hinaus sollen auch andere methodisch zentrale Fragen wie das Verständnis der Medialität, das Verhältnis von ‚Kultur‘ zu ihrem anderen – dem Fremden, der ‚Natur‘ etc. –, das implizierte Verständnis von Moderne, die Konstruktion von ’heiligen‘ oder ‚wilden‘ Ursprüngen etc. thematisiert werden.

 

Das ZfL, bekannt für seine interdisziplinäre Arbeitsstruktur und Gesprächskultur, führt im Juli 2011 eine Internationale Sommerakademie durch, die sich dem epistemologischen Potential der ‚Ersten Kulturwissenschaft’ widmet und dessen Relevanz für die gegenwärtige Entwicklung der Kulturwissenschaften diskutiert. Eingeladen sind NachwuchswissenschaftlerInnen (DoktorandInnen und PostDocs) der Geistes- und Kulturwissenschaften, die historisch zur ‚Ersten Kulturwissenschaft’ arbeiten oder sich in ihren Forschungen auf deren Methoden und Konzepte beziehen. Im Sinne der Entwicklung einer Epistemologie der Kulturwissenschaften werden (1) Grundlagentext von Autoren der Ersten Kulturwissenschaft gelesen und (2) die Forschungsvorhaben der Teilnehmer vorgestellt und diskutiert; außerdem finden drei öffentliche Abendvorträge mit Diskussion statt.

 

Organisatorische Eckdaten:

Termin: Sonntag, 10., bis Freitag, 15. Juli 2011

Ort: Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Schützenstr. 18, 10117 Berlin

Organisation: Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Dr. h.c. Sigrid Weigel, PD Dr. Daniel Weidner, PD Dr. Stefan Willer; organisatorische Leitung: PD Dr. Irmela Krüger-Fürhoff, Dr. Dirk Naguschewski

Teilnehmer/innen: DoktorandInnen und Post-Docs (unter besonderer Berücksichtigung von Nachwuchswissenschaftlern aus USA, Osteuropa und Israel)

Teilnehmerzahl: 12-15 Teilnehmer + 5 inhaltlich verantwortliche ZfL-Mitarbeiter

Arbeitssprache: Deutsch und Englisch. Vorausgesetzt wird gutes Hörverständnis und sehr gute Lesefähigkeit, da die Quellentexte im Original gelesen werden; die Präsentation der Projekte durch die Doktoranden kann auf Englisch erfolgen.

 

Programm:

Tag 1, Sonntag Nachmittag: Geführter Stadtspaziergang auf den Spuren Walter Benjamins

Tag 2-6, Montag-Freitag, Vormittags, 9.30-13.00 Uhr: Workshops: Close Reading von zentralen Texten der Autoren der ‚Ersten Kulturwissenschaft’ (Sigmund Freud, Aby Warburg, Ernst Cassirer, Helmuth Plessner, Max Weber, Georg Simmel, Walter Benjamin, Erich Auerbach).

 

Moderation der Sitzungen durch Wissenschaftler des ZfL: Herbert Kopp-Oberstebrink, Irmela Krüger-Fürhoff, Anne-Kathrin Reulecke, Falko Schmieder, Martin Treml, Daniel Weidner, Sigrid Weigel, Stefan Willer. Zur Vorbereitung wird an alle Teilnehmer ein Reader mit den Grundlagentexten sowie den Materialien der Teilnehmer für die Nachmittagspräsentation verschickt.

 

Nachmittags, 14.30-18.00 Uhr: Projektvorstellungen der Teilnehmer (drei pro Tag):

20 minütige Präsentation der Arbeitsvorhaben durch die DoktorandInnen und Post-Docs mit anschließender Diskussion. Die Materialien, die von den Teilnehmern eingereicht werden, umfassen Gliederung und Kurzfassung der Arbeit sowie ggf. einen Quellentext. Evtl. Besuch des Walter-Benjamin-Archivs der Akademie der Künste Berlin.

 

Abends, 18.30 Uhr

drei öffentliche Abendvorträge (mit Diskussion)

Mo, 11. Juli: Sigrid Weigel (Berlin)

Di, 12. Juli: Carlo Ginzburg (Pisa)

Do, 14.Juli: Georges Didi-Huberman (Paris)

Mi und Fr. Abend: Gelegenheit zu individuell organisierten Theater-, Konzert-, Opernbesuchen; etliche Museen sind am Donnerstag bis 22 h geöffnet; den Teilnehmern wird vorab ein Programm zugeschickt.

 

Teilnahme:

Bewerbung: Lebenslauf und zweiseitige Projektskizze bis 15.3.2011 per E-Mail an Axel Wappler, wappler@zfl-berlin.org [mailto:wappler@zfl-berlin.org] . Die Zusage erfolgt bis zum 1.4.2011

Unkosten: für 6 Übernachtungen / Frühstück, 5 x Mittagessen, Pausenverpflegung und Seminar-Materialien zusammen 500 Euro

Unterkunft: gemeinsame Unterkunft aller Teilnehmer in einem Hostel / Hotel

Reisekosten und Abendessen: tragen die Teilnehmer

Im Einzelfall kann ein begründeter Antrag auf Übernahme der Reise- und Aufenthaltskosten durch das ZfL gestellt werden; ausländische Teilnehmer können außerdem Finanzierungsanträge beim DAAD stellen.

 

Zentrum für Literatur- und Kulturforschung

Sabine Zimmermann

Schützenstr. 18

10117 Berlin

Tel.: 030-20192-171

Fax: 030-20192-154

 

Von:  Sabine Zimmermann

Publiziert von: Christof Schöch