Fristverlängerung bis 31.01.2012: CfP: Sektion "Transmediales Gedächtnis: Literatur, Theater und Film in der Frankokaribik und ihrer Diaspora", Frankoromanistentag 2012
- Ort: Leipzig
- Beginn: 19.09.12
- Ende: 22.09.12
- Disziplinen: Literaturwissenschaft, Medien-/Kulturwissenschaft
- Sprachen: Französisch
- Frist: 31.01.12
Zentrales Anliegen der Sektion ist es, die fiktionalen Formen von Gedächtnis in Literatur, Theater und Film der Karibik und ihrer weltweiten Diaspora zu untersuchen. Im Mittelpunkt steht die frankophone und kreolophone Karibik (Haiti, Martinique, Guadeloupe) vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Seitenblicke auf die hispano- oder anglophone Karibik sind erwünscht. Die Sektion untersucht Literaturen, Theaterinszenierungen und Filme, insbesondere deren ästhetische, gegenderte und identitäre Dimensionen im postkolonialen Kontext.
Diese fiktionalen und medialen Erzeugnisse sind zugleich Zeugnisse und konstruieren – so die erste unserer Ausgangsthesen – eine spezifische kollektive Erinnerung. Antillanische Geschichte schreiben heißt vor allem Geschichte imaginieren. Damit verknüpft sind eine Vielzahl von Fragen: Kann die dominante Geschichtsschreibung des Kolonialismus durch andere narrative Modelle ersetzt werden, um den Mangel an kollektivem Gedächtnis zu kompensieren? Kann fehlende Geschichte (Glissant spricht mit Blick auf die Antillen von deren Non-Histoire) literarisch substituiert werden und können kollektive Erinnerungen nach¬träglich geschaffen werden? Wie kann traumatisch Verdrängtes in Erinnerung zurückverwandelt werden? Welche Formen der Narrativierung der Sklaverei- und Kolonialgeschichte werden in den jeweiligen Medien gefunden? Unterscheidet sich dabei die Produktion und Rezeption von unsicherem historischem Wissen in den multiplen Medien? Welche Erzählverfahren und welche Medien werden besonders häufig und mit welchem Erfolg zur Dekonstruktion tradierter Identitäts- und Kulturkonzepte eingesetzt? Daran schließt sich die zentrale und allgemeinere Frage an, wie unter den Bedingungen der Diaspora die Kontinuität der eigenen Geschichte, wie Identitäts- und Subjektkonstitutionen in Gegenwart und Zukunft erzeugt und gesichert werden können.
Unverkennbar ist, dass neben der häufig anzutreffenden pathologischen Dimension, die sich bspw. in Begriffsfeldern äußert wie "complexe d’infériorité" (Frantz Fanon), "schizophrénie" (Jean-Claude Fignolé, Frankétienne) oder die nach Édouard Glissant von "dépossession, névrose, morbidité" geprägte martinikanische Gesellschaft, sich gleichzeitig eine beeindruckende künstlerische Produktivität in der Karibik und ihrer Diaspora finden lässt. Diese Kulturproduktion bringt – so eine zweite These – durch ihre ästhetischen Möglichkeiten vernachlässigte, bislang ungehörte Stimmen in das Erinnern ein. Sie unterläuft dabei die rationalistischen Narrative des wissenden (weißen, kolonialen, männlichen) Subjekts und versteht sich als Ort der Erfahrung einer spezifischen différance und dissémination. Die Re-Interpretation und Repräsentation von Geschichte(n) und Identitäten eröffnet eine neue Form der Auseinandersetzung um Narrativität und Diskursivität von Wirklichkeitserfahrung. Die literarische, theatrale und filmische Vergangenheitsdarstellung bildet eine Art Avantgarde der diasporischen Formen der Geschichtsschreibung, insofern sie neue oder bislang ungeschriebene Erfahrungen und neues Weltwissen erschließt und erinnerbar macht.
Medien- und Gattungswechsel sind in den frankokaribischen Literaturen häufig zu beobachten. Autor/inn/en, die sich auf Romane beschränken, bilden eher die Ausnahme. Viele karibische Autor/inn/en wechseln unaufhörlich zwischen Manifest, Roman, Essay, Autofiktion oder Theater; selbst im Bereich Comic sind sie mittlerweile vertreten. Haitianische Autoren fallen etwa durch ihre subalterne Praxis auf, zahlreiche Werke nicht nur in Kreol, sondern auch als Hörbücher zu verfassen, um sie der teilweise analphabetischen Bevölkerung zugänglich zu machen. Diese Praxis trifft in das ‚Herz’ eines für die Karibik – so unsere dritte Ausgangsthese – genuinen Medienwechsels. Medienwechsel ist in postkolonialen und diasporischen Literaturen oft sowohl als medialer Transfer zwischen Modi und Gattungen, als Intermedialität, als auch als wechselnder Übergang von Oralität in Literalität und umgekehrt zu verstehen. In der Oraliture sollen z.B. kreolische Volkssprache und französische Literatur – Oralität und Schrift – eine Symbiose bilden. Bewegungen wie Créolité und Spiralisme münden, bei aller Differenz, in eine kulturelle Aufwertung des kommunikativen Gedächtnisses als Teil der karibischen Identitätsbildung. Das kommunikative Gedächtnis erweitert die von Halbwachs beschriebene mémoire collective, welche sich vor¬nehmlich auf schriftlich fixierte Erinnerung bezieht. Gerade hier – so eine vierte These – könnte die mise en scène (mittels Hörbücher, Theater und Film) von mündlich Überliefertem eine kreative Lösung sein, um eine Re-Konstruktion von Geschichte und die Gleichzeitigkeit des historisch Disparaten (Transtemporalität) zu inszenieren.
Zu untersuchen wären etwa neben literarischen Werken seit dem 19. Jahrhundert auch aktuelle Medienproduktionen oder dokumentarische Biopics wie Frantz Fanon: "Black Skin, White Mask (1996), "Passage du milieu" (1999), "Identité et devenir" (2009), "Edouard Glissant: un monde en relation" (2009) bis hin zur umstrittenen ‚Sklaverei-Komödie‘ "Case départ" (2011). Eingeladen sind zudem Wissenschaftler/innen, die sich intermedialen Phänomenen in den karibischen Literaturen zuwenden; bislang war dieses Feld vor allem dem filmischen Schreiben im französischen Roman vorbehalten (vgl. Tschilschke 2000), obwohl es sich in vielen Beispielen finden lässt.
Vorträge in französischer und deutscher Sprache sind willkommen. Zusätzlich wird ein Reader von uns zusammengestellt, der den Teilnehmer/innen vorab zur Verfügung gestellt wird und zu einer vertieften gemeinsamen Text- und Diskussionsgrundlage führen soll. Die Akten der Sektion werden veröffentlicht.
Bitte reichen Sie Ihr Abstract bis 31.01.2012 bei Prof. Dr. Gisela Febel (febel@uni-bremen.de) oder PD Dr. Natascha Ueckmann (ueckmann@uni-bremen.de) ein.
Publiziert von: Reto Zöllner