Artikelausschreibung des Jahrbuchs für europäische Wissenschaftskultur 2009, Themenschwerpunkt: "Die Sprachen der Wissenschaften zwischen 1600 und 1850"
- Ort: Jena
- Disziplinen: Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft, Medien-/Kulturwissenschaft
- Sprachen: Französisch, Italienisch, Sprachenübergreifend
- Frist: 30.11.09
Jahrbuch für europäische Wissenschaftskultur 2009
Themenschwerpunkt: Die Sprachen der Wissenschaften zwischen 1600 und 1850
Der diesjährige Themenschwerpunkt des Jahrbuchs für europäische Wissenschaftskultur macht es sich zur Aufgabe, das Verhältnis zwischen sprachlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen in der Konstituierungsphase des modernen Wissenschaftssystems näher zu beleuchten und dabei insbesondere den wechselseitigen Wirkungszusammenhang zwischen dem allgemeinen Ausdifferenzierungsprozess, dem die Wissenschaften zwischen 1600 und 1850 unterliegen, und sprachlichen Differenzierungsvorgängen in den Blick nehmen. Wir gehen dabei davon aus, dass die Ausdifferenzierung der modernen wissenschaftlichen Disziplinen in einer doppelten Hinsicht mit Entwicklungen sprachlicher Natur einhergeht.
So steht sie zum einen (a) in engem Zusammenhang mit der sukzessiven Etablierung nationaler Wissenschaftskulturen, durch die zunächst das Lateinische als anerkannte Gelehrten- und Wissenschaftssprache endgültig durch die Volkssprachen abgelöst und im Weiteren zusehends auch die Dominanz des Französischen als alternativer wissenschaftlicher lingua franca in Frage gestellt wird. Dieser Ablösungsprozess vom Lateinischen stellt die zeitgenössischen Wissenschaftsakteure zwar zunächst vor die schwierige Aufgabe, die Volkssprachen in einem ersten umfassenden Übertragungs- und Entlehnungsprozess zur Aufnahme und Weiterentwicklung tradierter Wissensbestände fähig zu machen, eröffnet ihnen aber damit zugleich auch die Chance, völlig neue Phänomenbereiche (wie z.B. Elektrizität und Galvanismus) gleichsam ab ovo sprachlich zu erschließen und die Inblicknahme traditioneller Gegenstände von überkommenen Darstellungskonventionen zu entlasten, wie sie nicht zuletzt durch die weitgehend lateinisch geprägten Leitdisziplinen der Theologie und Philosophie vorgegeben werden. Mit der Konsolidierung einer Reihe gleichermaßen wissenschaftsfähiger Sprachen stellt sich jedoch in der Folge zusehends auch das Problem der Kommunikation zwischen den einzelnen nationalen Wissenschaftskulturen und der übernationalen Reintegration der Forschungsprozesse, deren handgreiflichstes Resultat die fast unüberschaubare Menge an zeitgenössischer wissenschaftlicher Übersetzungsliteratur darstellt, und (wie im Falle der Rezeption der ‚französischen‘ Chemie oder der ‚deutschen‘ Naturphilosophie) nicht selten auch Rezeptionsvorgänge zeitigt, die von politischer Polemik und Auseinandersetzungen über sprachliche Vormachtstellungen geprägt sind.
Zum anderen (b) geht die Ausdifferenzierung der Wissenschaften auch mit Prozessen sprachlicher Binnendifferenzierung und der Ausbildung eigenständiger fachsprachlicher Varietäten für die sich ausbildenden Einzeldisziplinen einher. Dies betrifft nicht nur die sukzessive Entkopplung der beiden großen Wissensfelder, die sich im Rückblick als Geistes- und Naturwissenschaften identifizieren lassen, sondern auch die weitere Entfaltung und disziplinäre Einfassung regionaler Epistemologien innerhalb dieser beiden Sphären, wobei allerdings im Auge zu behalten ist, dass die grundsätzliche Tendenz zur schrittweisen sprachlichen Entkopplung der Wissenschaften und Disziplinen untereinander keineswegs Übertragungen einzelner semantischer Konzepte (etwa von der Zoologie in die Botanik) oder auch allgemeinerer Darstellungskonventionen (etwa die vergleichende Methode oder morphologische bzw. historisch-erzählerische Schreibweisen um 1800) zwischen den in der Herausbildung befindlichen Einzeldisziplinen ausschließt. Dabei stellt die Schaffung, Fortschreibung und Pflege jeweils fachspezifischer Terminologien, Nomenklaturen oder Formularsysteme ohne Zweifel einen konstitutiven Faktor in der Herausbildung gegenstands- bzw. disziplinspezifischer Sprachvarietäten dar. Doch kommt dieser Faktor weder im luftleeren Raum zum Tragen, noch muss sich das Potential zur Analyse der Funktionsweise wissenschaftlicher Varietäten allein in seiner Rekonstruktion erschöpfen. So sieht sich etwa die praktische Entwicklung einzelwissenschaftlicher Terminologien bzw. Nomenklaturen einerseits immer wieder in den theoretischen Diskursraum des Nachdenkens über die Möglichkeiten einer allgemeinen Erfindungskunst oder künstlichen Universalsprache gestellt. Andererseits ereignet sie sich in einem zeitlich wie gegenstands- und disziplinspezifisch durchaus variablen Gefüge von Darstellungsnormen, Textsortenkonventionen und Überzeugungsstrategien und im Medium eines mehr oder minder reglementierten Systems intertextueller Beziehungen zwischen unterschiedlichen Textsorten (Zeitschriftenpublikationen, Lehrbücher, Wörterbücher etc.) – Faktoren, deren Rekonstruktion für eine differentielle Analyse fachsprachlicher Varietäten ebenso zentral wie die Darstellung spezifizierter Vokabulare ist.
Vor dem Hintergrund dieses allgemeinen Aufrisses sind dem Jahrbuch für europäische Wissenschaftskultur für seinen diesjährigen Themenschwerpunkt alle Beiträge willkommen, die in Form aussagekräftiger Fallbeispiele näheren Aufschluss über das Wirkungsgefüge geben können, in dem sich die Entwicklung einer Vielfalt von Sprachen der Wissenschaften mit dem allgemeinen Prozess der Ausdifferenzierung der Wissenschaften verzahnt, wobei der Akzent sowohl auf den Aspekt der Herausbildung unterschiedlicher wissenschaftsfähiger Nationalsprachen als auch auf den Aspekt der gegenstands- bzw. disziplininternen Entwicklung unterschiedlicher Sprachvarietäten gelegt werden kann. Von Interesse sind dabei gleichermaßen Analysen, die sich der wissenschaftlichen Sprachenvielfalt und ihrer Genese im Sinne einer praktischen Beschreibung von Darstellungskonventionen einzelner Sprachvarietäten bzw. der Rekonstruktion von Übertragungsprozessen zwischen diesen Varietäten zuwenden, wie Darstellungen theoretischer Konzepte, die diese Entwicklung philosophisch oder literarisch skandieren und reflektieren.
Der Umfang der Manuskripte, die in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache abgefasst werden können, sollte zwischen 10 und 20 Seiten liegen. Themenvorschläge können bis zum 30. November 2009 an die Adresse daniel.ulbrich@uni-jena.de gesendet werden. Redaktionsschluss ist der 15. Februar 2010.
Daniel Ulbrich, M.A.
Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, Medizin und Technik
Ernst-Haeckel-Haus
Berggasse 7
07745 Jena
daniel.ulbrich@uni-jena.de
Prof. Dr. Dr. Olaf Breidbach
Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, Medizin und Technik
Ernst-Haeckel-Haus
Berggasse 7
07745 Jena
www.steiner-verlag.de/zeitschriften/zeitschriften-alphabetisch/view/titel/54784.html
Publiziert von: Kai Nonnenmacher