Nachruf auf Prof. Dr. Ulrich Ricken (1926 bis 2011)
- Disziplinen: Sprachwissenschaft, Weitere Teilbereiche
- Sprachen: Französisch, Sprachenübergreifend
Am 17. Oktober 2011 ist der Romanist, allgemeine Sprachwissenschaftler und Aufklärungsforscher Prof. Dr. Ulrich Ricken nach schwerer Krankheit verstorben. Er gehörte zu den Wissenschaftlern, die ihre Forschungen auch unter schwierigen Bedingungen betrieben und sich nachhaltig mit ihrer ganzen Persönlichkeit für die Entwicklung der Wissenschaft einsetzten.
Ulrich Ricken wurde am 28. Dezember 1926 in Wolgast geboren. Nachdem er die Wirren des Krieges noch als Jugendlicher erlebt hatte, schrieb er sich an der seinem Geburtsort nahegelegenen Universität Greifswald ein. Prägend für seine akademische Entwicklung wurde jedoch Werner Krauss, bei dem er in Leipzig promovierte. Auch Kurt Baldinger verdankte er Anregungen für seine Dissertation, in der er die onomasiologische Methode auf nichtgegenständliche Begriffsbereiche ausweitete. Die Arbeit erschien 1961 unter dem Titel Gelehrter und Wissenschaft im Französischen. Beiträge zu ihrer Bezeichnungsgeschichte vom 12. bis 17. Jahrhundert im Akademieverlag in Berlin. Er hatte damit einen eigenständigen Beitrag geleistet, der für die Entwicklung der Lexikologie und der onomasiologischen Wortforschung bedeutsam wurde, ihn aber zugleich von der eher sozialgeschichtlich orientierten Ideengeschichte der Krauss-Schule etwas entfernte. Auch für sein Habilitationsthema wählte er eine sprachwissenschaftliche Fragestellung: Er untersuchte die Debatte um die französische Wortstellung im 17. und 18. Jahrhundert. Diese Arbeit ist erst viel später in überarbeiteter, aktualisierter und gekürzter Fassung in französischer Sprache unter dem Titel Grammaire et philosophie au siècle des lumières. Controverses sur l'ordre naturel et la clarté du français (Lille 1978) erschienen. Die Differenzen in der Wertung der Natürlichkeit der Wortstellung ausgehend von rationalistischen und sensualistischen Positionen zeigte er in dieser Arbeit auf der Basis eines gründlichen Studiums sprachtheoretischer Texte und Grammatiken. Doch auch für eine Überwindung der starren Gegenüberstellung von Rationalismus und Sensualismus in Forschungen zu den Debatten der Aufklärung konnte er Ansätze liefern.
Die Geschichte der Sprachtheorien – insbesondere in Frankreich – sollte ihn zeitlebens beschäftigen. Er schrieb dazu zahlreiche Artikel, wie zum Beispiel über Linguistik und Naturwissenschaft in der Aufklärung (1981), Les Idéologues et la sensation transformée (1986), Von Descartes zu Locke und Leibniz: Zur Ausgangskonstellation sprachphilosophischer Entwicklungen der Aufklärung (1990). Sein Buch über Grammatik und Philosophie im Zeitalter der Aufklärung wurde 1994 in englischer Übersetzung bei Routledge in London herausgegeben. Er behandelte praktisch alle großen Autoren der Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts und sorgte auch durch eine Übersetzung des Essai sur l'origine des connaissances humaines von Condillac für dessen Bekanntheit im deutschen Sprachraum. Mit seinen Arbeiten zur Aufklärungsforschung legte er wichtige Grundlagen für unser heutiges Wissen um diese Epoche. Seine Publikationen erschienen in großen internationalen Verlagen in Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, der Schweiz und den USA. Er war ein hoch angesehener Wissenschaftler, der zu zahlreichen Tagungen und Kongressen ins Ausland eingeladen wurde.
Doch auch über seine eigenen Forschungen hinaus hat er Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaft geleistet. Nach seiner Habilitation wurde er Direktor des Romanischen Seminars an der Universität Halle, das im Zuge der Hochschulreform bald zum Wissenschaftsbereich Romanistik wurde. Er setzte sich für den Ausbau dieses Instituts ein, der Anfang der siebziger Jahre möglich geworden war. Angesichts der staatlichen Anerkennung der DDR auf internationaler Ebene glaubte man möglichst schnell Französischlehrer ausbilden zu müssen und auch sonst Sprachkundige in den romanischen Sprachen zu benötigen. Ulrich Ricken ergriff diese Chance und baute ein leistungsfähiges Institut auf, dem er auch ein Forschungsprofil zu geben versuchte. Er knüpfte dabei an seine lexikologischen Forschungen an und begründete ein Projekt zu „Struktur und Funktion des sozialen Wortschatzes in der französischen Literatur“. Außerdem war er als Direktor der Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft für die Entwicklung aller fremdsprachenphilologischen Institute an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zuständig.
Nachdem er 1974 aus diesem Amt ausgeschieden war, widmete er sich insbesondere der Forschung und der Entwicklung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf dem Gebiet der romanischen und allgemeinen Sprachwissenschaft. Außerdem förderte er den interdisziplinären Dialog und führte mehrere internationale Kolloquien durch. So wie er selbst häufig zu Vorträgen im Ausland weilte, lud er auch zahlreiche renommierte Wissenschaftler nach Halle ein. 1981 wurde er als ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig gewählt.
Wissenschaftsentwicklung war für ihn eine äußerst wichtige Tätigkeit, die er nicht auf sein Fachgebiet beschränkte und in internationaler Vernetzung weit über seinen Tätigkeitsort hinaus betrieb. Dabei ging es ihm in den letzten Jahren seines Wirkens an der Martin-Luther-Universität vor allem um die Nutzung des Potentials des Standorts Halle und insbesondere der Franckeschen Stiftungen für die Entwicklung einer interdisziplinären Aufklärungsforschung. Bei einem Forschungsaufenthalt an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel hatte er Paul Raabe kennengelernt, durch dessen Vermittlung er Kontakt mit der Volkswagenstiftung aufnahm und schließlich einen Antrag für den Aufbau eines Forschungszentrums in den Franckeschen Stiftungen vorbereitete. Was das in den achtziger Jahren bedeutete, ist heute kaum zu ermessen. Beharrlich und unermüdlich setzte er jedoch die Gründung eines interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der europäischen Aufklärung bereits zu DDR-Zeiten durch.
Auch nach dem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 1991 blieb er seinen Forschungen treu. Er weitete seine Interessen noch stärker auf die deutsche Aufklärung und ihrer Beziehungen zur Romania aus und schrieb mehrere Artikel, in denen er seine ideengeschichtlichen, lexikologischen und wissenschaftsorganisatorischen Erfahrungen verarbeitete.
In den letzten Jahren litt er unter einer schweren Krankheit und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Wir werden sein Andenken als Wissenschaftler, akademischer Lehrer und Kollege stets in lebhafter und ehrender Erinnerung behalten.
Gerda Haßler (Potsdam)
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