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27.01.2014

CfP: Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur

  • Ort: Greifswald
  • Beginn: 06.10.14
  • Ende: 08.10.14
  • Disziplinen: Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft
  • Sprachen: Sprachenübergreifend
  • Frist: 15.03.14

Das geplante Kolloquium setzt die Reihe von Tagungen zu mittelalterlichen Redeszenen fort: 2005 fand in Münster das erste Kolloquium zu "Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik" statt (Band 36 der Reihe 'Beiträge zur Dialogforschung' im Verlag Max Niemeyer 2007). 2007 folgte die Bremer Tagung "Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik: komparatistische Perspektiven", deren Beiträge als erster Band in der neu begründeten Reihe 'Historische Dialogforschung' im Akademie Verlag 2011 erschienen sind. Mit der 2009 organisierten Tagung (Mülheim an der Ruhr) zum Thema "Sprechen mit Gott" war die komparatistische Perspektive im Besonderen auf die Redeszenen in der geistlichen Erzähldichtung gerichtet. 2012 sind die Ergebnisse im zweiten Band der Reihe des Akademie Verlags publiziert worden.

 

Die mediävistisch interdisziplinär geplante Tagung "Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur" macht ausgehend von den bisherigen Ergebnissen zu Formen und Funktionen von Redeszenen die Vielstimmigkeit in den Texten und ihre medial mündliche Vermittlung zum Thema. Ziel des Kolloquiums ist es, ein interphilologisches Forum zu bieten, in dem Phänomene von Stimme und Performanz komparatistisch in unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen untersucht werden.

 

Dabei ermöglicht die Thematik von Stimme und Performanz eine besonders ausgeprägte Engführung von Sprach- und Literaturwissenschaft. So liefert im Bereich der Mündlichkeit die linguistische Unterscheidung von Medium und Konzept, Nähesprache und Distanzsprache (Peter Koch und Wulf Oesterreicher, "Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte", in: Romanistisches Jahrbuch 36 [1985], S. 15-43) ein Gefüge von Kategorien, mit denen Effekte von Stimme und Performanz auch in literarischen Werken analysiert werden können. Eine weitere Thematik, bei der sich eine Überblendung sprach- und literaturwissenschaftlicher Ansätze anbietet, ist die Gestaltung fingierter Mündlichkeit und deren Funktionalisierung in unterschiedlichen Textgattungen.

 

In Anschluss an Genettes Discours du récit ist 'Stimme' eine wesentliche Kategorie der Erzählanalyse geworden, und der metaphorisch verwendete Begriff dient der Beschreibung einer pragmatischen Textfunktion und der narrativen Instanz. Auf die mittelalterliche Literatur angewendet bietet sich die Möglichkeit, die fingierte Mündlichkeit der Texte und ihre Dialogizität in Erzähler- und Figurenrede in ihrem narratologischen Potential auszuloten (siehe dazu Nine Miedema, "Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse", in: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven, hg. von Harald Haferland und Matthias Meyer, Berlin/New York 2010, S. 35-67). Allerdings beschränkt der Genette'sche Begriff die Stimme auf narratologische Fragestellungen und meint eine gleichsam 'tonlose' Polyphonie der Stimmen, die Aspekte der Medialität ausblendet.

 

Für die historische Dialogforschung und im Besonderen für diejenige zur mittelalterlichen Literatur ist die textinhärente Dialogizität jedoch auch als eine hörbare Mehrstimmigkeit zu analysieren. Der laute Vortrag, also Klang, Rhythmus, Verse, Reime, Stil erzeugen eine über das Ohr vermittelte Textrezeption. Wenn auch unsere Kenntnisse der realen Aufführungspraxis mittelalterlicher Literatur eingeschränkt sind, so lassen doch die Texte selbst und die ihnen eigenen performativen Merkmale auf Vortragsbedingungen und intendierte Wirkungen schließen. Auch die handschriftliche Überlieferung der Texte gibt Aufschluss über die Bewahrung oder den Verlust der performativen Qualität der Dichtung.

 

Ausgehend von dem Interesse an der Hörbarkeit der stimmlichen Vielfalt, die den mittelalterlichen Texten der weltlichen und geistlichen Dichtung gleichermaßen genuin ist, seien folgende Themenbereiche als Anregung formuliert:

 

- Grundsätzlich ist das Diktum von Paul Zumthor zu wiederholen, dass erst die Stimme in der Performanz den Text zur Dichtung macht (Paul Zumthor, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1994). Die Stimme konstituiert die poetische Qualität des Textes, sie hat ebenso Anteil an seiner Sinngebung. In der Differenzierung von oralité und vocalité im Sinne von Mündlichkeit und Stimmlichkeit lässt sich der Anteil der Stimme als bedeutungstragender Instanz beschreiben. Für die Differenz zwischen stummer und lauter Lektüre wäre exemplarisch zu untersuchen, wie der Vortrag den Text zum Sprechkunstwerk werden lässt, seine eingeschriebene Mündlichkeit hörbar macht und wie sich mit der Stimme des Vortragenden in der Vergegenwärtigung des Textes (vereindeutigende oder öffnende) Interpretation und Autorisierung verbinden (vgl. zum Beispiel Reinhart Meyer-Kalkus, "Vorlesbarkeit. Zur Lautstilistik narrativer Texte", in: Stimme[n] im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, hg. von Andreas Blödorn, Daniela Langer und Michael Scheffel, Berlin/New York 2006, S. 349-381; Franz Lebsanft, "Hören und Lesen im Mittelalter" [Besprechungsaufsatz], in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 92 [1982], S. 52-64).

 

- Die Stimmen im Text und ihre Redegestaltung können mit besonderem Blick auf ihre performativen Realisationsmöglichkeiten im Vortrag untersucht werden. Dies ist teilweise schon für den schnellen Redewechsel, seine Form und Funktion gemacht worden und wäre unter den Aspekten der Theatralisierung und des dramatischen Modus in epischen Texten weiter zu verfolgen. Für die Markierung von Rede durch inquit-Formeln und ihre Stellung im Gesprächsverlauf sowie für die Erweiterungen der inquit-Formeln durch redequalifizierende und redebegleitende Angaben wären ebenso weitere Untersuchungen ertragreich. Auch aus komparatistischer Sicht sind die je nach Volkssprache unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten von Strophe, Vers, Zäsur, Reim und Reimpaarbrechung sowie Prosa in ihrer hörbaren Wirkung ein bislang kaum beachtetes Thema. Für die Funktion des lauten Vortrags wäre auch zu fragen, wie Wiederholung und Zitate die Wahrnehmung in der Rezeption steuern.

Gibt es unterschiedliche Sprechstile der Figuren, deren Markierung erst über das Hören wahrnehmbar ist? Wird die Verschiedenheit von Stimmen reflektiert (vgl. Ulrich Mölk, "Das Motiv des Wiedererkennens an der Stimme im Epos und höfischen Roman des französischen Mittelalters", in: Romanistisches Jahrbuch 15 [1964], S. 107-115)? Ist die hörbare Wirkung von Rede auf der Figurenebene thematisiert? Welche Effekte haben rhetorische Mittel in der Rede? Wie funktioniert die versgebundene Rede, auch als authentische Wiedergabe von Gespräch? Wird Komik erst über das laute Sprechen realisiert, sind situative Aspekte, Atmosphäre, Zwischentöne, Mitgemeintes hörbar? Wie ist die Interaktion von Erzähler- und Figurenstimmen gestaltet? Wie unterschiedlich wirken Erzählerrede und Figurenreden?

 

- Im Kontext der handschriftlichen Überlieferung sind die Stimmen des Textes medial nicht hörbar, aber sichtbar in Schrift (oder auch Bild) umgesetzt. Die Vergänglichkeit der Stimme ist im Buchcodex konserviert, über die Schrift kann die Stimme durch lautes Lesen wieder hörbar gemacht werden. Mittel zur graphischen Codierung von Redewechseln sind in Handschriften zu finden und indizieren eine Vorlesbarkeit. Der Bewahrung performativer Hinweise von Texten steht ebenso die textliche Veränderung von Vortragsformen wie Strophe und Vers gegenüber, wie dies zum Beispiel für das Nibelungenlied im Ambraser Heldenbuch (1504-1516) durch die sprachliche Modernisierung festzustellen ist oder in der Überlieferung von Alpharts Tod (Berlin, Staatsbibliothek-Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 856, Handschrift 15. Jh.) durch zusätzliche inquit-Formeln, die die Strophenform auflösen. Für die Sammlung von Texten und ihre Tradierung könnten auch Überlegungen zur Fiktion einer performativen Situation relevant sein, wie dies zum Beispiel für die mittelniederdeutschen Handschriften zu Flos unde Blankeflos und die inserierten Trinksprüche diskutiert wurde (siehe Elisabeth de Bruijn, "Give The Reader Something to Drink: Performativity in the Middle Low German Flos unde Blankeflos", in: Neophilologus 96 [2012], S. 81-101). Fingierte, sekundäre Hinweise auf Performanz könnten als kompensatorische Formen im Kontext des Transferprozesses durch die Verschriftlichung fungieren.

 

Die Tagung wird im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald stattfinden. Die Vorträge sollten die Dauer von 30 Minuten nicht überschreiten. Eine Publikation der Ergebnisse ist geplant in der Reihe 'Historische Dialogforschung'.

 

Wir erbitten die Zusendung des Arbeitstitels Ihres Vortrags mit einer ca. eine Seite umfassenden Umschreibung der geplanten Untersuchungen bis zum 15. März 2014 an eine der folgenden Adressen:

 

Prof. Dr. Monika Unzeitig

Institut für Deutsche Philologie

Universität Greifswald

Rubenowstr. 3

17489 Greifswald

unzeitig@uni-greifswald.de

 

Prof. Dr. Nine Miedema

FR 4.1 Germanistik

Universität des Saarlandes

Campus C 5.3

66123 Saarbrücken

nine.miedema@mx.uni-saarland.de

 

Prof. Dr. Angela Schrott

Institut für Romanistik

Universität Kassel

Kurt-Wolters-Str. 5

34125 Kassel

angela.schrott@uni-kassel.de

Von:  Florian Schmid

Publiziert von: cf