Ringvorlesung "Wissens-Ordnungen. Zu einer historischen Epistemologie der Literatur"
- Ort: Berlin
- Beginn: 22.04.10
- Ende: 06.07.10
- Disziplinen: Literaturwissenschaft, Medien-/Kulturwissenschaft
- Sprachen: Sprachenübergreifend
Das Feld der Beziehungen zwischen Wissens-, Wissenschaftsgeschichte und Literatur wird seit einigen Jahren intensiv beforscht. Die Ringvorlesung möchte verschiedene theoretische Ansätze, unter denen dieses Verhältnis gedacht werden kann, möglichst systematisch erfassen und zu einer weitergehenden Theoriebildung einladen. Unterhalb der allgemeinen Ebene der Zwei-Kulturen-Debatte oder der diskursanalytischen Frage nach dem Status von Literatur wischen Diskurs und Gegendiskurs soll auf einer konkreteren, detaillierteren Ebene untersucht werden, wie diese Beziehungen beschrieben werden können, wobei insbesondere nach den spezifischen Verfahren zu fragen ist, die für die literarische Formation von Wissen konstitutiv sind.
Der Titelbegriff ‚Wissens-Ordnungen‘ soll auf mehrere theoretische Aspekte der Fragestellung hinweisen. Zwei Grundaspekte des Verhältnisses von Literatur und Wissenschaften sind vor allem gemeint. Zum einen impliziert er, dass Wissen verschiedenen Ordnungen angehören kann, im Sinne von Kategorien, aber auch von Institutionen. Je nachdem, wo Wissen seinen sozialen Ort hat, bildet es einen eigenen Diskurs mit eigenen Regeln. Das muss bei der Frage nach Literatur als eigener Wissensordnung ebenso berücksichtigt werden wie bei der Frage, wie sich Literatur gegenüber externen Wissensordnungen positioniert. Dabei wäre, aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, zunächst zu unter suchen, wie sich Literatur zum System der etablierten Wissenschaften verhält, ob und wie sie deren Kenntnisse aufnimmt oder hinterfragt, deren Verfahren übernimmt, beobachtet oder transformiert und durch genuin literarische Verfahren einer anderen Formation von Wissen zuführt. Weiter wäre zu fragen, ob das Verhältnis der Literatur zur Wissenschaft nicht insofern als ambivalentes beschrieben werden muss, als Literatur zwar Kenntnisse übernimmt, dabei jedoch über eine besondere Sensibilität verfügt für das je Ausgeschlossene, Verworfene, oder für das noch Unbeantwortete und Fragliche, also für das eigentlich nicht Gewusste. Wie könnte diese Eigenart mit literarischen Verfahren und Gattungen der Wissensformation zusammenhängen? Und wie sind die alternativen Beziehungen theoretisch zu fassen, die sich vor diesem Hintergrund ergeben, wie der umgekehrte Wissenstransfer von Literatur zur Wissenschaft oder die Möglichkeit einer Koevolution von Wissen, die die Grenzziehung zwischen beiden Kulturen sprengt?
Zum anderen wird mit dem Titelbegriff nach der Art und Weise gefragt, in der Literatur ihr Wissen ordnet, danach, welche Struktur sie ihm gibt und welche Verfahren dabei zur Anwendung kommen. Nachzugehen ist hier nicht nur der Frage, was literarische Wissensformationen im Unterschied zu wissenschaftlichen qualitativ auszeichnet. Dabei wäre zum Beispiel an die Tendenz von Literatur zu denken, ihre Verfahren und deren bedeutungskonstitutive Wirkung zu reflektieren und so immer auch schon ein selbstreflexives Wissen zu liefern, das um die eigenen Produktionsbedingungen weiß. Oder es gälte nach der Rolle zu fragen, die die Fiktionalisierung für den Status von Wissen spielt, sowie die Anschaulichkeit des literarischen Wissens zu reflektieren, die zu einem teilnehmenden Lesen anregt, d. h. ein nicht so sehr logisches als vielmehr affektlogisch strukturiertes Wissen generiert. Darüber hinaus müsste man sich jedoch auch der Frage stellen, auf welchen Ebenen eine Vergleichbarkeit oder ein Austausch zwischen der literarischen und der wissenschaftlichen Formation von Wissen denkbar ist. Offenbar liegen Ästhetik und Erkenntnis in beiden Bereichen nahe beieinander: Der Gebrauch von Metaphern, deren Bedeutung für die Begriffsgeschichte H. Blumenberg aufgezeigt hat, legt dies ebenso nahe wie der Umstand, dass Wissenschaft von »Denkstilen« geprägt ist, dass also die von ihnen erzeugte logische Konsistenz auch einen ästhetischen Wert hat.
Programm
Sommersemester 2010, 18-20 h
Habelschwerdter Allee 45, KL 32 / 202
Eröffnungsveranstaltung
Donnerstag, 22. April
Thomas Anz (Marburg): Wer weiß was wie wozu? Zirkulationen (un)geordneten Wissens zwischen Psychoanalyse und Literatur
Dienstag, 27. April
Georg Braungart (Tübingen): Die Schriftengewölbe der Erde. Konstruktive Imagination und Zeichenlektüre in der Literaturgeschichte der Geologie
Dienstag, 4. Mai
Peter-André Alt (Berlin): Paradoxie als Medium religiösen Wissens. Mystisch-hermetische Semantik und poetische Struktur im 17. Jahrhundert
Dienstag, 11. Mai
Walter Erhart (Bielefeld): Was wollen Philologen wissen ? Über Praktiken und Passionen der Literaturwissenschaft
Dienstag, 18. Mai
Stefan Rieger (Bochum): Kybernetische Dramenanalyse. Literatur und Wissensordnung an technischen Hochschulen
Dienstag, 25. Mai
Françoise Gaillard (Paris): Literature seen through Science. Reflections on Michel Serres
Dienstag, 1. Juni
Christina Brandt (Berlin): Begriff — Metapher — Experiment: Perspektiven aus Wissenschaftsgeschichte und Literaturforschung
Dienstag, 8. Juni
Stefan Willer (Berlin): Vom Wissen und Nicht-Wissen der Zukunft: Literatur und Prognostik
Dienstag, 15. Juni
Yvonne Wübben (Hagen / Berlin): Die Sinnlichkeit des Wissens: Psychiatrie und Literatur
Dienstag, 22. Juni
Michel Pierssens (Montréal): Poetic Science: Texts for Contexts
Dienstag, 29. Juni
Michael Gamper (Zürich): Wissen und Erzählen
Dienstag, 6. Juli
Jutta Müller-Tamm (Berlin): Die Denkfigur als wissensgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Kategorie
Konzeption: Nicola Gess & Sandra Janßen
Freie Universität Berlin
Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften
Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Habelschwerdter Allee 45
14 195 Berlin
Kontakt und Information:
ngess@zedat.fu-berlin.de
janssens@zedat.fu-berlin.de
Publiziert von: Kai Nonnenmacher