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06.02.2011

Zum Tod des Philosophen und Autors Édouard Glissant

  • Disziplinen: Literaturwissenschaft, Medien-/Kulturwissenschaft
  • Sprachen: Französisch, Sprachenübergreifend

„Ich behaupte, dass die Welt sich kreolisiert“ [oder: Der Poet der Vielheit]

Zum Tod des Philosophen und Autors Édouard Glissant

 

„Die neuen Sprachen der türkisch-deutschen Jugendlichen, die Mehrsprachigkeit, der Umgang mit Vielheit – das interessiert mich, wenn ich nach Berlin komme“, offenbarte mir Edouard Glissant im letzten Gespräch. Sein Sohn gab mir die Namen französischer Rapper, die sich mit dem Werk seines Vaters auseinander setzten. Der bedeutendste Poet, Philosoph, Romancier und Essayist der französischsprachigen Karibik und intellektueller Vordenker in kulturtheoretischen Fragen wirkte müde und stützte sich auf einen knorrigen Stock mit einer Figur am Handgriff. Doch die Dringlichkeit seiner Argumentation gegen ein starres Schubladendenken in Kategorien von Identität und Ethnie, seine Neugier und die Kraft seiner politischen Anliegen waren beeindruckend. Regelmäßig äußerte er sich zur rückwärtsgerichteten und ausgrenzenden Innenpolitik Frankreichs, welche die Kolonialvergangenheit beschönige und neue Mauern zwischen den in Frankreich lebenden Menschen errichte. Vor zwei Tagen starb Edouard Glissant nach längeren Krankheitsphasen in Paris.

 

Der Autor wurde 1928 auf der karibischen Insel Martinique geboren. Mit einem Stipendium der französischen Regierung kam er 1946 nach Paris, um dort Geschichte, Literatur, Ethnologie und Philosophie zu studieren. Bald schon schloß er sich künstlerisch-literarischen Zirkeln an und engagierte sich in antikolonialistischen Bewegungen - die Zeit Aimé Césaires, Franz Fanons, Lépold Sédar Senghors. Er veröffentlichte zahlreiche Gedichte, Romane, Essays und Theaterstücke. 1958 erhielt er den PRIX RENAUDOT für seinem ersten Roman La Lézarde (Sturzflug – das Lied von Martinique), ein Manifest des Dichters und der postkolonialen Emanzipation der Antillen. Von 1982 bis 1988 war er Kulturpolitiker in der UNESCO. Glissant lebte in seinem Haus auf Martinique, in den USA, wo er zunächst in Louisiana an der City University New in York lehrte sowie in Paris, der Stadt, der er sein All-Welt-Institut (Institut du Tout-Monde) schenkte.

 

Das umfangreiche Gesamtwerk umfaßt Gedichte, Romane und philosophische Essays und lässt sich keinem Genre zuzuordnen. Es „verknüpft Philosophie und Poesie in ihrer tiefsten und reinsten Form“, so der Philosoph Gilles Deleuze. Glissant legte seit den 80er Jahren Theorien zu Kreolisierung, Diversität und Differenz vor. Werke wie Le discours antillais, 1981 (Zersplitterte Welten. Der Diskurs der Antillen, 1986) waren maßgeblich für die Herausbildung eines Interesses für Multikulturalität, Identitätspolitik und so genannte Minderheiten-Literaturen. Er entwickelte sie weiter, vor allem in Poétique de la Relation (1990) und Introduction à une Poétique du Divers (1996, Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit 2005) sowie im Traité du Tout-Monde (1997; dt. Traktat über die Welt 1999) und der Philosophie de la Relation (2009) zu einer Poetik der Vielheit, einer fragmentarischen Theorie der weltweiten Beziehungen. Den Prozess der Globalisierung hat er somit frühzeitig und als einer der ersten als kulturelle Tendenz beschrieben. Somit ist Glissants Werk ein eigenständiger und umfassender kulturphilosophischer Beitrag zum Thema der Vermischung von Kulturen in einer globalisierten Welt. Seitdem hat er Dutzende Lyrikbände, Romane und Essays veröffentlicht, die weltweit Spuren hinterlassen. In Paris stellte er noch im vergangenen Oktober die Sammlung La terre le Feu, l’Eau et les Vents mit Gedichten wichtiger Inspirationsmeister und Weggefährten vor, 2010 erschien auch L’Imaginaire des langues. Entretiens avec Lise Gauvin, ein Plädoyer für die Revolte und die Kraft der Imagination.

 

Seine Texte faszinieren durch ihre suchende Bewegung und zielen nicht auf ein in sich abgeschlossenes kategoriales Denk-System, sondern wenden sich vielmehr gegen geschlossene Theorien. Sein Schreiben ist gekennzeichnet durch die Suche nach etwas Neuem – das Offene des Werkes fordert uns heraus, weil es ungewöhnliche Verbindungslinien aufzeigt. Eine pittoreske oder naturalistische Karibikliteratur war seine Sache nicht, vielmehr unterhielt er eine fließende Beziehung zum Text, à la William Faulkner, dem er einen Essay widmete. Damit setzt er der alles erhellen wollenden, das Fremde vermessen wollenden europäischen Tradition eine karibische Poetik der Vielstimmigkeit und der Gleichzeitigkeit verschiedener Zweitebenen entgegen. Die „Opazität“, d.h. die Undurchdringlichkeit des Anderen, das Nicht-Erklärbare ist etwas Positives, so lautet eine seiner Thesen gegen die falsche Klarheit universalistischer Modelle im aktuellen Dokumentarfilm Edouard Glissant: un monde en relation des New Yorker Regisseurs Manthia Diawara.

 

Landschaft, Naturgewalten und -metaphern, vor allem die Inseln, das Meer und das Wasser sind charakteristische Ausdrucksmittel der Philosophie und Literatur Glissants Werk. Bereits früh taucht bei ihm das problematische Verhältnis des Menschen zur Natur auf, der ihren Raubbau betreibt. Die Karibik ist für ihn ein Laboratorium der „Kreolisierung“. Ihre Sprachmischung aus afrikanischer Syntax, karibischen Wörtern und französischen Dialekten sieht er als exemplarisch für die Vermischung von Kulturen, aus der Unvorhersehbares, Neues entsteht. Die spezifische archipelische Verfasstheit der Karibik macht sie zu einem Modell, für das, was auf der ganzen Welt geschieht: „Ich behaupte, dass die Welt sich kreolisiert.“ Kreolisierung beinhaltet eine schöpferische Aneignung kultureller Mischung unter Achtung und Bewahrung von Vielfalt und Heterogenität. Mit seiner Poetik der Relation, des Archipelischen beschreibt er die Öffnung für neue Beziehungsformen. Seine seit 2006 herausgegebene Buchreihe „Völker am Wasser“ basiert auf zwölf Expeditionen von ausgewählten Autoren zu acht Völkern, die nur vom Wasser aus erreichbar sind, da sie auf abgeschiedenen Inseln, an Flußufern oder an Küsten leben. Hier erschien zuletzt auf Deutsch Das magnetische Land, eine höchst ungewöhnliche Annäherung an die Osterinseln und ihre kulturelle Energie. Als „Black Atlantik“ ist das Meer in Glissants Werk aber auch Speicher historischer Traumata: Die grausame Schiffspassage, die Sklaven aus Westafrika in die Karibik und nach Amerika deportierte, lebt im Gedächtnis der Sklaven und ihrer Nachfahren fort – neben der Kolonialisierung ein Thema, dem sich Glissant immer wieder widmete. Gemeinsamkeit der daraus entstandenen schwarzen diasporischen Kulturproduktion ist für Glissant ihre Multiplizität. Diese Anschlussfähigkeit inspirierte ihn zu Kollaborationen mit dem Jazz-Musiker Jacques Coursil oder dem Dub-Poeten Linton Kwesi Johnson.

 

Glissant wurde mehrmals für den Literaturnobelpreis nominiert und wird von den neueren frankophonen Autoren wie Patrick Chamoiseau oder Raphael Confiant rezipiert. Bei uns ist er im akademischen Umfeld bekannt und dank der bewundernswerten Veröffentlichungstätigkeit seines deutschen Verlages Das Wunderhorn in der Übersetzung Beate Thills auf Deutsch verfügbar. Dennoch hat dieser wohl wichtigste zeitgenössische Denker noch keinen gebührenden Resonanzraum in unserer Kulturtheorie, Philosophie und Globalisierungstheorie gefunden. Seine „Globalisierungstheorie“ ist noch nicht im Mainstream angekommen. Nach diesem großen Verlust bleibt nur zu hoffen, dass das Werk Glissants mit seinem Plädoyer für die Mannigfaltigkeit kontinuierlich hineinsickert in unser Denken, Fühlen und Handeln. Denn der reiche Schatz, den uns dieser nicht nur karibische Autor hinterlässt, birgt unendliche Anregungen für zukünftige Entwürfe einer globalen Beziehungspoetik. Wir sollten sie nun auf Europa anwenden – und vielleicht auch in Berlin.

 

Susanne Stemmler

 

 

Von:  Susanne Stemmler

Publiziert von: jd