Tagungen > Tagungsausschreibung

04.11.2008

CfP: "'Das Bild des Marranentums im 19. und 20. Jahrhundert"

  • Ort: Moses Mendelssohn Centre for European-Jewish Studies, Potsdam
  • Beginn: 22.03.09
  • Ende: 23.03.09
  • Disziplinen: Medien-/Kulturwissenschaft
  • Sprachen: Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch, Sprachenübergreifend
  • Frist: 01.12.08

Versteckter Glaube oder doppelte Identität?

Das Bild des Marranentums im 19. und 20. Jahrhundert

 

Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam

in Kooperation mit dem Geschichtsforum Jägerstraße, Berlin

22./23.3.2009 – Berlin (Remise im ehemaligen Stammhaus der Mendelssohn-Bank)

 

Als Marranen bezeichnete man gemeinhin Juden, die im Mittelalter und in der frühen Neuzeit in Spanien und Portugal zur Verleugnung ihrer Religion gezwungen waren, sie aber heimlich aufrecht hielten. Das Phänomen dieser „heimlichen Juden“ spielt jedoch nicht nur im Zeitalter der Inquisition eine wichtige Rolle, sondern wird auch im 19. Jahrhundert zu einer identitätsstiftenden Projektionsfläche für das deutsch-jüdische Bürgertum. Tatsächlich war die Haltung der Juden in dieser Epoche in Bezug auf ihr Verhältnis zum Judaismus und ihrer Konversion zum Christentum durchaus widersprüchlich, insofern stellen

sie soziologisch gesehen ein ähnliches, wenn auch nicht identisches Phänomen dar wie die zwangsgetauften Juden im Spanien des 14. und 15. Jahrhunderts. Beispielsweise wurden die bekannten Berliner Salons auch als Orte „exklusiver Begegnung“, wo sich Conversos untereinander trafen, aber auch mit der übrigen Gesellschaft verkehrten, diskutiert. In erweiterter Perspektive kann festgestellt werden, dass sich im 19. Jahrhundert eine deutschjüdische Oberschicht herausgebildet hat, die aus einigen wenigen Familien bestand, die enge persönliche und geschäftliche Kontakte pflegten, tendenziell untereinander heirateten und sich damit auch deutlich von anderen Schichten der Bevölkerung abgrenzten. So entstand um David Friedländer, die „jüngeren“ Mendelssohns und andere eine Gruppe „am Rande oder schon gänzlich außerhalb der jüdischen Gemeinschaft“ (Julius H. Schoeps).

In Frankreich bildete sich um 1830 eine jüdische Schicht heraus, die eine vergleichbare Heiratspolitik verfolgte. Ähnlich wie Julius H. Schoeps und Felix Gilbert für Deutschland, und insbesondere für die Mendelssohns, konstatiert auch Phyllis Cohen-Albert für Frankreich eine „ethnische Solidarität“, die ebenfalls mit einer Tendenz zu endogamen Allianzen verbunden war. Weiterhin stellt Michael Graetz fest, dass diese Elite des französischjüdischen Bürgertums ebenso am Rande der jüdischen Gesellschaft stand wie die deutschjüdische Oberschicht. Vor diesem Hintergrund kann von einer „Form des modernen

Marranentums“ gesprochen werden. Dadurch hat sich das Zusammentreffen zwischen „Juden und Universellem“ (Sylvie-Anne Goldberg) in Deutschland und in Frankreich des 19. Jahrhunderts einen Weg zu eröffnen versucht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, begünstigt durch die rechtliche Gleichstellung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Emanzipationsprozess, bot das historische Marranentum (also die Akkulturation spanischer Juden an die christliche Mehrheitsgesellschaft bzw. die Assimilation „eines religiösen Systems, das mit dem urprünglich Jüdischen Erbe in Koexistenz lebte ohne es zu verfinstern“

Ariel Segal) ein großes Identifikationspotential. Das deutsch-jüdische Bürgertum rezipierte das spanische Spätmittelalter einerseits als „Zeit kultureller und wissenschaftlicher Spitzenleistungen und selbstbewussten Zusammenlebens mit der christlichen Mehrheit“, andererseits wurde auch die Geschichte der Marranen, ihre „Verfolgung […] durch die Inquisition und ihr Opfertod für den Glauben […] als Verpflichtung vor der jüdischen Verfolgungsgeschichte aufgefasst“ (Florian Krobb). Die zionistische Bewegung grenzte sich von dieser Lesart deutlich ab, so begriff Max Nordau den Zionismus als einzig mögliche Alternative zum „neuen Marranentum“, welches seiner Ansicht nach nur eine Fortschreibung der Diasporageschichte und damit auch einen weiteren Verlust jüdischer Identität darstellte. Der Marrane, der „verborgene Jude“ blieb aber eine faszinierende Figur, die von Sigmund Freud bis Jacques Derrida immer wieder mit subversiven theologischen und anthropologischen Aspekten aufgeladen und illustriert wurde. Damit wurde er zur Projektionsfläche, zum Symbol für die Diaspora- und Exilgeschichte des Judentums; so auch bei Fritz Heymann, der die Marranen in den 1930er Jahren als kulturell eigenständige Gruppe bezeichnete. Selbst zeitlebens ein Außenseiter und durch die Flucht aus Deutschland zusätzlich entwurzelt, hat Heymann in seiner „Marranen-Chronik“ einen Typus jüdischer Existenz „am Rande der Gesellschaft“ gezeichnet. Diese Dialektik der „untreuen Treue“ ist offensichtlich nicht kompatibel mit einer geschlossenen Gesellschaftsform, widerspricht jeglicher „Fantasie der Reinheit“ und jeglicher Integrität, welche dem Universalismus entgegen wirkt (Jacques Derrida). So tritt Edgar Morin zur Verteidigung der „neuen Marranen“ an, die er als Judeo-Gentile bezeichnet, als würdige Erben Montaignes und Spinozas; als Gegenbild entwirft er den „rejudaisierten Juden“, welcher dem Hass auf andere Völker anhängt. Daniel Bensaïd interessiert sich hingegen für den „imaginären Marranen“, seine „doppelte Identität ohne Doppelzüngigkeit“. Auch Benny Levy verwendet in seiner bekannten Studie „Être juif“ den Begriff des „imaginären Marranen“ und unterstreicht damit die Bedeutung dieses Terminus insbesondere für den französisch-jüdischen Identitätsdiskurs. Obwohl es zuletzt als provokative Lösung der „jüdischen Frage“ bzw. des „jüdischen Problems“ (Bruno Karsenti) betrachtet worden ist, bleibt das moderne Marranentum philosophisch so wie in der historisch-soziologischen Einschätzung umstritten. Die geplante internationale Tagung möchte Bildern und Begriffen des Marranentums, ihrer Entstehung und Rezeption nachgehen und diese vorstellen und diskutieren. Dafür sind Beiträge erwünscht, die anhand empirischen Materials inhaltliche oder methodologisch-theoretische Fragestellungen bearbeiten und diese vor allem als Beitrag zur historisch-soziologischen Charakterisierung des Marranentums insbesondere im 19. Jahrhundert verstehen. Ferner sind wir an historischen

Analysen interessiert, die auf den Zeitraum des 19. bis zum 21. Jahrhunderts fokussieren. Die gegenwärtige Debatte um das Marranentum als „Typus jüdischer Existenz“ sollte möglichst an konkreten Beispielen erläutert und in den historischen Kontext

eingeordnet werden.

Im Rahmen der Tagung soll den folgenden Fragen nachgegangen werden:

 

. Wofür haben das Konzept der Marranen bzw. die jeweiligen Begriffe von Marranentum in der geschichts-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion gedient, wozu dienen sie heute und was für Vorstellungen sind damit verbunden? Wo lassen sich Grenzen dieses Konzepts ausmachen?

. Inwiefern bringt die Erforschung des Marranentums im 19. Jahrhundert neue Fragen an die Empirie, neue methodische Zugänge und neue theoretische Positionen in den Geschichts- und Sozialwissenschaften hervor?

. Impliziert dies die Einbeziehung einer transnationalen Perspektive und die Berücksichtigung alternativer Identitätskonstruktionen sowie einer neuen Auffassung von Religiosität und Säkularität in der Moderne?

. Welche Relevanz hat die Geschlechterforschung für die Hinterfragung von Bildern, Begriffen und der Geschichte des Marranentums? Dienten und dienen weibliche Idealbilder wie z.B. die der Berliner Salonièren im frühen 19. Jahrhunderts

oder die Figur von Esther – laut Derrida „die erste Marranin, der Archetyp“– als Idealtypus eines Marranentums, welches neuen jüdischen Selbstverständnissen und neuen weiblichen und männlichen Identitätsauffassungen in der Moderne eröffneten?

. Inwiefern spielt das Marranentum als „ein Typus jüdischer Existenz am Rande der Gesellschaft“ eine zentrale Rolle für die Erforschung der Geschichte des Judentums im 19. Jahrhunderts, insbesondere mit Bezug auf die so umstrittene „deutsch-jüdische

Symbiose“?

. Ist es sinnvoll, Nordaus und Morins Auffassungen des „Neuen Marranentums“ gegeneinander abzuwägen? Oder ist das Marranentum ein Begriff bzw. erlebte Kondition, welcher immer noch nicht als gegeben angesehen werden kann, sondern zu untersuchen ist und wodurch sich weitere theoretische und historisch-empirische Forschungsspielraume erschließen könnten?

 

Wir freuen uns, dass Deborah Hertz (University of California, San Diego), Florian Krobb (National University of Ireland, Maynooth) und Julius H. Schoeps (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam) für Beiträge gewonnen werden konnten und bitten um

Vortragsvorschläge (max. 30 Minuten) in deutscher oder englischer Sprache aus allen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, die als Abstract (max. 2.000 Zeichen) bis zum 1. Dezember möglichst in elektronischer Form (marranos@web.de) eingegangen sein müssen (an English version of the CFP is available at the following URL: www.mmz-potsdam.de).

Die Autorinnen und Autoren der ausgewählten Beiträge werden Ende Dezember 2008 benachrichtigt. Eine Publikation der Beiträge ist vorgesehen.

 

Die Tagung wird vom Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam in Zusammenarbeit mit der Moses Mendelssohn Stiftung, Erlangen und dem Geschichtsforum Jägerstraße, Berlin veranstaltet. Die Unterbringung wird von den Veranstaltern organisiert.

Konzeption und Organisation: Paola Ferruta, Anna-Dorothea Ludewig, Hannah Lotte Lund.

 

* * *

 

During the Middle Ages and early modern times in Spain and Portugal, Jewish people who were forced to deny their religion but kept practising in secret were known as Marranos. These “secret Jews” were historically important not only during the Inquisition, but also throughout the 19th century, when they came to offer a projection space for German-Jewish bourgeois self-identification. Actually, the attitude of a number of Jews at the time towards Judaism and their conversion to Christianity remained manifestly ambiguous. For this reason, the so-called “New Christians” can be compared from a sociological perspective, according to Julius H. Schoeps, to the forced baptisms of Jews in Spain during the 15th century. The wellknown Berlin Salons have been seen as an “exclusive meeting place” where Conversos met

with each other and also with other members of society. From a wider perspective, it can be noted that during the 19th century a German-Jewish upper class emerged consisting of a select group of families who maintained personal and business contacts amongst each other and tended to inter-marry within their group. A new grouping at the edges or outside of the Jewish community formed itself around David Friedländer and the young Mendelssohns.

 

Similarly, around 1830 there arose in France a social tier of Jews who pursued comparable marriage policies. As Julius H. Schoeps and Felix Gilbert have pointed out concerning the Mendelssohns in Germany, Phyllis Cohen-Albert describes how an “ethnic solidarity” came about in France amongst others as a result of a tendency towards endogamous alliances. Michael Graetz outlines how this elite of the French-Jewish bourgeoisie stood at the edge of Jewish society in the same way as their German upper-class equivalents. In this regard we might speak of a “form of modern Marranism” which was the crucible for the coming together of the “Jews and the Universal” (Sylvie-Anne Goldberg) in Germany and France in the 19th century. In the second half of the 19th century, historical Marranism (i.e. the acculturation of Spanish Jews to the Christian majority and the assimilation “of a religious system that coexisted with a group’s original Jewish heritage without eclipsing it”, Ariel Segal), abetted by the legal and societal emancipation, offered a great identification potential for Jews. The German-Jewish bourgeoisie saw the Spanish late Middle Ages on the one hand as a “time of cultural and scientific overachievement and confident coexistence with the Christian majority”, whereas on the other hand the “persecution [...] by the Inquisition and their martyrdom for their faith [...] was seen as “part of the history of oppression of the Jewish people” (Florian Krobb).

 

The Zionist movement had a substantially different view. For example, Max Nordau saw Zionism as the only possible alternative to “new Marranism”, which to him was an update of the Diaspora and thus constituted a further impoverishment of the Jewish identity. However, the Marranos, the “concealed Jew”, remained a figure that exerted a wide fascination ­ from Sigmund Freud through to Jacques Derrida, it became loaded with subversive theological and anthropological aspects. It became, in a way, a projection surface ­ a symbol for the Diaspora and history of Jewish exile. One who saw the Marranos in this way was Fritz Heymann, who in the 1930s described them as a culturally self-contained group. Himself a life-long outsider who was rootless on account of his flight from Germany, in his “Chronicles of the Marranos” Heymann described a typical Jewish existence on the “edge of society”. This Dialectic of the “Untrue true” (Jacques Derrida) stands in clear opposition to the closed society, the “Dreams of Purity” and the integrity that Universalism makes impossible. In this way, Edgar Morin has recently defended the “new Marranos”, who he describes as Jewish-Gentiles. These, he says, are the just heirs of Montaigne and Spinoza. He places them in opposition to the “re-Jewified Jews” who direct their hate towards other nations. Daniel Bensaïd is interested in the “unduplicitous double identity” of the “imaginary Marranos”, a concept on which Benny Levy has also placed particular emphasis in his book “To be a Jew”, criticising the French discourse on Jewish identity. Even if considered as a provocative solution to the “Jewish question” i.e. the “Jewish problem” (Bruno Karsenti), modern Marranism remains, in spite of all attempts that have been made, controversial from a philosophical and historicalsociological perspective.

 

The planned international Conference will investigate images and concepts of Marranism by discussing how they have been received through history. To that end, proposals are solicited that pose methodological-theoretical questions based on empirical research, and that deepen our historical-sociological characterisation of Marranism, with a particular emphasis from the 19th until today. The debate about Marranism as a “typical Jewish Existence” should, as far as possible, make use of concrete examples and place questions in their respective historical context.

 

Papers might address (but need not to be limited to) one or more of the following questions

 

. What roles have concepts of Marranism played in historical and sociological discussions, how are they helpful and what do we associate with them? How can we better define this concept?

 

. To what degree does research into Marranism in the 19th century pose new questions about Jewry, offer new methodological approaches and suggest new theoretical positions in the wider study of history and sociology?

 

. Does study of Marranism deepen our understanding of transnational perspectives and other Identity constructions, as well as our concepts of religiosity and laity in the modern world?

 

. What relevance do Gender studies have for the questioning of Images, Concepts and the history of Marranism? Have idealized female figures (such as the Berlin Salon Women of the early 19th century or the figure of Esther, who Derrida called the first female Marranos, the archetype) served as Ideal Types of Marranism? And which new forms of Jewish self-understanding and new female and male identities have they contributed to modern life?

 

. To what degree does Marranism, when seen as a “typical Jewish existence on the edge of society”, offer an opportunity for research into the history of Jewry in the 19th century, most particularly with respect to the controversial “German-Jewish symbiosis”?

 

. Is it appropriate to play off Nordau’s and Morin’s understandings of “New Marranism” against each other? Or is Marranism a concept, or an experienced condition that cannot be taken for granted but must be investigated, a process through which further theoretical and historical-empirical avenues for research can be opened up?

 

We are very pleased that Deborah Hertz (University of California, San Diego), Florian Krobb (National University of Ireland, Maynooth) and Julius H. Schoeps (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam) have already agreed to talk at the conference.

 

30-minute long papers from all areas of social and cultural sciences are invited on issues related to Marranism. We also welcome proposals for pre-formed panels. Please submit your one-page proposal (2.000 signs max.) by Monday 1th December, 2008 to: marranos@web.de, in Word, WordPerfect, or RTF formats, following this order: author(s), affiliation, email address, title of abstract, and body of abstract. Papers can be given in either English or German. Notification of acceptance will be sent to authors by the end of December, 2008. We acknowledge receipt and answer to all paper proposals submitted. Authors of selected papers will be invited to submit extended versions for possible publication.

 

The conference is jointly organised by the Moses Mendelssohn Centre for European-Jewish Studies, Potsdam, the Moses Mendelssohn Foundation Erlangen, and the Geschichtsforum Jägerstraße, Berlin. Accommodation will be provided.

 

Concept and organisation: Paola Ferruta, Anna-Dorothea Ludewig, Hannah Lotte Lund.

 

Von:  Paola Ferruta

Publiziert von: Kai Nonnenmacher