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30.05.2009

CfP: Mythen und Tabus in den deutsch-französischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts

  • Ort: Saint-Étienne, Frankreich
  • Beginn: 19.11.09
  • Ende: 20.11.09
  • Disziplinen: Medien-/Kulturwissenschaft
  • Sprachen: Französisch
  • Frist: 20.06.09

Université Jean Monnet, Saint-Étienne (UJM); Universität Wuppertal,

Saint-Étienne, Frankreich

19.11.2009-20.11.2009, Université Jean Monnet, Saint-Étienne

Deadline: 20.06.2009

 

Frankreich und Deutschland standen sich seit Ende des 18. Jahrhunderts

weitgehend in einem starren These-Antithese-Modell gegenüber. Beide

hatten sich die eigene Geschichte passend gemacht und dazu das

vorhandene Bild- und Zeichenmaterial benutzt und modelliert. Die

Abgrenzung zum Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins gehörte zu den

identitätsstiftenden Faktoren beider Nationen und beschleunigte im

deutschen Fall den Nationsbildungsprozess, der in die Kaiserkrönung im

Spiegelsaal von Versailles mündete. Auch in den Jahrzehnten danach wurde

das deutsch-französische Verhältnis immer wieder durch reale und

konstruierte Gegensätze, Konflikte, Kriege und Zerstörung geprägt, so

dass sich in der Wahrnehmung des Anderen das Bild vom „Erbfeind“ bis in

die Mitte des 20. Jahrhunderts auf beiden Seiten des Rheins verfestigt

hatte und die Gegensätze zwischen beiden Ländern unauflöslich schienen.

 

 

Diese mentalen Barrieren fanden ihren Niederschlag auch in der

Historiographie der beiden Länder, die über Jahrzehnte von nationalen

Gesichtspunkten geprägt blieb, so dass es nach 1945 eines

wechselseitigen Lernprozesses bedurfte, um sich gemeinsam an die

Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte zu machen. Der

deutsch-französische Gegensatz wurde bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts

folglich nicht nur in kriegerscher Form ausgetragen, sondern erfuhr

seine Radikalisierung immer auch durch den Einsatz antagonistischer

Deutungsmuster und Erzählungen. Im 19. Jahrhundert kam dabei

konkurrierenden Geschichtskonstruktionen eine besondere Rolle zu, die

den Kohäsionskern beider Nationen in Form von narrativen Variationen,

ikonischer Verdichtung und ritueller Inszenierung stärken sollten. Von

Überlegenheitsvorstellungen und Dominanzansprüchen geprägte Feindbilder

und politische Mythen sollten auf beiden Seiten ein kollektives

Distinktionsbedürfnis befriedigen, mit denen die Ansprüche und das

Selbstbewusstsein der Gegenseite in Frage gestellt wurden. In dieser

Hinsicht gehörten politische Mythen zu den mentalen Waffen, die durch

ihre direkte emotionale Wirkung auf die Imaginationskraft des Menschen

das deutsch-französische Verhältnis immer wieder anheizten.

 

Dass eine deutsch-französische Verständigung im Jahre 1945 unmöglich

erschien, lag neben den politischen und sozialen Realitäten nicht

zuletzt auch an den inneren Strukturen von Mythen, die ihre

Dauerhaftigkeit dem ihnen eigenen Referenzsystem verdanken, das ihnen

Dauerhaftigkeit im menschlichen Bewusstsein verleiht. Wenn Mythen als

handlungsleitender Faktor treibende Kraft für Veränderungen sein können,

stellt sich für die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 zum

einen die Frage, ob die handelnde Akteure infolge der fortgesetzten

Gegensätze in der Vergangenheit überhaupt auf Mythen zurückgreifen

konnten und wollten, um den im Zeichen von Versöhnung und Verständigung

stehenden Annäherungsprozess symbolisch zu unterfüttern.

 

Dass Zeitgenossen und Politiker übernatürliche Erklärungen heranzogen

(„Wunder unserer Zeit“), um die Wandlungen in den deutsch-französischen

Beziehungen nach 1945 zu erklären, spricht für die Tendenz, der

bilateralen Annäherung mythische Dimensionen zu geben. Zum anderen ist

zu klären, ob neue Mythen geschaffen bzw. bestehende umgeschrieben

wurden, um die deutsch-französischen Beziehungen auf eine neue

emotionale Grundlage zu stellen.

 

Wenn wir den „Mythos“ in seiner ganz allgemeinen Form als ein

Erklärungsmuster mit großer öffentlicher Ausstrahlung bzw. als ein

legitimierendes Narrativ für einen Soll-Zustand definieren, dann gilt es

auch die „Erfolgsgeschichte“ der deutsch-französischen Annäherung zu

hinterfragen (vom „Erbfeind“ zum „Erbfreund“), die im politischen

Diskurs seit den 1970er Jahren Begriffe durch Begriffe wie „Tandem“,

„Paar“ und „Motor für Europa“ charakterisiert wird.

 

Weiterhin wird zu klären sein, welchen Einfluss der Eintritt neuer

Generationen in die deutsch-französischen Beziehungen auf den

politischen Mythenhaushalt hatte, können politische Mythen doch nur zum

Tragen kommen, wenn sie gemeinsame gesellschaftliche Bezugspunkte und

Erfahrungsräume ansprechen.

 

Heute leben wir in einem Zeitalter, in dem Tabubrüche und

Enttabuisierungen Kernbestandteil des öffentlichen Diskurses und des

gesellschaftlichen Zusammenlebens sind. Die Geschichtswissenschaft kann

sich jedoch nicht mit vereinfachenden Erklärungen und Nachfrageverboten

zufrieden geben, sondern muss Mythen und Tabus entschleiern, um lange

nicht hinterfragte Selbst- und Fremdbilder zu entschleiern. Welche

Mythen und Tabus haben das deutsch-französische Verhältnis beeinflusst?

Wer waren ihre Träger? Zu welchem Zweck wurden sie verbreitet? Welche

Auswirkungen hatten sie auf das bilaterale Verhältnis? Welche

Schlussfolgerungen lassen sich insgesamt für die deutsch-französischen

Beziehungen ziehen?

 

Die einzelnen Beiträge dieser Veranstaltung sollen die verschiedenen

Phasen der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert

reflektieren und können auch die Aktualität einbeziehen.

 

Wir möchten um Vorschläge für diese Tagung bis zum 20.6.2009 bitten. Die

Bewerbungen sollen einen kurzen tabellarischen Lebenslauf und eine

Inhaltsskizze von 2500 Zeichen enthalten. Comité scientifique: Michel

Depayre (UJM), Jacqueline Bayon (UJM), Ulrich Pfeil (UJM), Corine

Defrance (CNRS-IRICE), Franz Knipping (Wuppertal). Kosten für Anreise

und Unterbringung werden nach Maßgabe der eingeworbenen Drittmittel

erstattet.

 

Bitte senden Sie Ihre Vorschläge an

Prof. Dr. Ulrich Pfeil

upfeil@orange.fr

 

Pfeil Ulrich

Université Jean Monnet de Saint-Étienne

35 rue du 11 novembre; 42023 Saint-Étienne cédex 02

upfeil@orange.fr

 

Von:  Ulrich Pfeil

Publiziert von: Kai Nonnenmacher