CfP: Prousts Recherche und die Medizin
- Ort: Lübeck
- Beginn: 03.05.12
- Ende: 05.05.12
- Disziplinen: Literaturwissenschaft
- Sprachen: Französisch
- Frist: 31.07.11
Marcel Proust war Sohn und Bruder von – prominenten – Ärzten: Sein Vater Adrien Proust (1834-1903) war einer der wichtigsten Hygieniker seiner Zeit, aber auch durch sein 1897 erschienenes Buch zur Modekrankheit der Neurasthenie (L’hygiène du neurasthénique) und durch seine Studien zur Hirnforschung (De l’aphasie, 1871) hervorgetreten. Adriens jüngerer Sohn, der Urologe Robert Proust, stand dagegen vergleichsweise im Schatten des Vaters und seines stetig an literarischer Prominenz gewinnenden Bruders Marcel. Da Proust zeit seines Lebens an schweren wie eingebildeten Krankheiten von Asthma bis Neurasthenie litt und er die medizinischen Größen Frankreichs auf der Suche nach Heilung aufsuchte, hatte er als Sohn, Bruder und Patient an der von Konzepten, Möglichkeiten, Verheißungen und Enttäuschungen der Medizin gesättigten Kultur der belle époque regen Anteil.
Vor allem aber als Schriftsteller: Die Recherche bietet das narrativisierte medizinische Wissen einer Epoche, die den positivistischen Erkenntnis- und Therapieoptimismus der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts ebenso hinter sich gelassen hat wie deren somatisch-organologische Orientierung. Stattdessen stellt sie – vor und gleichzeitig zu Freud - durch die französische experimentelle Psychologie der 1880er und 1890er Jahre ein Modell des Bewusstseins bereit, dessen Vielschichtigkeit dem Individuum das Vertrauen in die Beherrschbarkeit des eigenen psychischen Selbst nimmt. Kombiniert mit der psychiatrischen Zivilisationskritik an einer nervenzehrenden Moderne und den neuen Forschungen zur Psychosomatik um 1900 steht dem aufgeklärten Patienten Proust ein Wissen zur Verfügung, in dem das Individuum Resonanzkörper der modernen Gesellschaft wie diese Ansammlung von (psycho-)pathologischen Individuen ist. Was Proust aber aus der abgelegten Wissenschaftskultur der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts übernimmt, ist der Flaubert’sche „coup d’œil médical“ auf die psycho-physischen Details, der die Zeichen der Oberfläche auf die pathologischen Prozesse der Tiefe zurückzuführen sucht, ohne aber diesen Blick an eine distanzierte, „gesunde“ Position des Arztes binden zu können. Der „coup d’œil médical“ ist bei Proust stets affiziert von den physischen, mehr noch psychischen Prozessen, die er beobachtet, er ist der des Arztes und des Patienten zugleich. Dank der besonderen Luzidität, die aus dieser doppelten Perspektive entspringt, gelingt es Proust, das medizinische Wissen seiner Zeit zu sprengen und vortheoretisch-narrativ in Bereiche vorzudringen, die erst die modernen Neurowissenschaften experimentell erforschen werden.
Die biographischen, pathologischen und epistemologischen Aspekte des Themas „Prousts Recherche und die Medizin“ sind also stets als interagierende zu denken, wenn sie sich auch heuristisch trennen lassen in
1) Prousts Recherche und das medizinische Wissen seiner Zeit
- Sexualpathologien (Richard v.Krafft-Ebing)
- Neurasthenie/Psychasthenie (Charles Beard, Jean-Martin Charcot, Pierre Janet, Adrien Proust)
- Aboulie (Théodule Ribot, Les maladies de la volonté, Paris 1883)
- Multiple Persönlichkeit (Alfred Binet, Les altérations de la personnalité, Paris 1892)
- Erinnerung und Hypnose (A. Proust, Hippolyte Bernheim, Th. Ribot, Les maladies de la mémoire, 1881; Paul-Auguste Sollier, Les troubles de la mémoire, 1892)
- Asthma (Edouard Brissaud, L’Hygiène des astmatiques, Paris 1896)
- Hysterie (A. Proust, „Cas curieux d’automatisme ambulatoire chez un hystérique“, in: La Tribune médicale 13 (1890); Paul-Auguste Sollier, L’hystérie et son traitement)
2) Prousts erzählte Medizin, Prousts medizinisches Erzählen
- Ärztesatire in der Recherche (und ihre Tradition von Molière bis Balzac und Flaubert): Dr. Cottard, Dr. du Boulbon, Dr. Dieulafoy.
- Erzählte physische Krankheit, erzähltes Sterben in der Recherche (Marcels Asthmaanfälle, Tod der Großmutter Marcels, Tod Bergottes)
- Erzählte Formen der Sexualorientierung und Pschopathologien (Swann und Odette; Homosexualität Charlus’, Saint-Loups; das Lexemfeld „nerves/nerveux“)
- Physiologe und Pathologie des Schlafes
- Prousts Selbstaussagen zum medizinischen Erzählen der Recherche (e.g. Recherche als „théorie de la mémoire et de la connaissance“, Brief an Louis de Robert, Juli 1913; „comme un chirurgien qui, sous le poli d’un ventre de femme, verrait le mal interne qui le ronge. J’avais beau dîner en ville, je ne voyais pas les convives, parce que, quand je croyais les regarder, je les radiographiais“)
- Prousts medizinisches Erzählen (u.a. medizinische Terminologie, Rekurs auf Textsorte der Fallgeschichte)
- Krieg als Krankheit (Le temps retrouvé)
3) Prousts Recherche und die moderne Neurowissenschaften
In den modernen Neurowissenschaften dient Proust als Referenzautor für die sog. „proustian memory“ oder den „proustian effect“. Am MIT Picower Institute of Learning and Memory wurde jüngst erforscht, wie die Erinnerung an ein scheinbar irrelevantes Detail, das normalerweise nur seinen Platz im Kurzzeitgedächtnis hat, sich an eine Langzeiterinnerung koppeln kann, „if two synapses on a single dendritic arbor are stimulated within an hour and a half of each other“ (Govindarajan et al., 2011). Schon 2007 ist Proust beim Wissenschaftsjournalisten Jonah Lehrer zum „neuroscientist“ avant la lettre avanciert (Jonah Lehrer, Proust was a Neuroscientist, 2007). Was tragen die vortheoretischen und vorempirischen Passagen der Recherche tatsächlich zur gegenwärtigen neurowissenschaftlichen Forschung zum Gedächtnis bei bzw. wie erhellen sie das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft?
Die Tagung soll die Gelegenheit ergreifen, die vielfach getrennt behandelten Fragestellungen und Themenbereiche in den medizinhistorischen, epistemologischen und literarhistorischen Zusammenhang zu bringen, in den sie gehören. Da das Thema „Prousts Recherche und die Medizin“ dergestalt die Schnittfläche von Literaturwissenschaft, Psychiatrie-/Medizingeschichte und Neurowissenschaft bildet, wird die Tagung organisiert und für die Marcel Proust-Gesellschaft ausgerichtet von Prof. Dr. Cornelius Borck (Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität Lübeck), Prof. Dr. Marc Föcking (Institut für Romanistik, Universität Hamburg) und Prof. Dr. Achim Peters (Medizinische Klinik I der Universität Lübeck).
Eine Veröffentlichung der Vorträge ist geplant
Vorschläge für Vorträge mit kurzen Abstracts (ca. 20 Zeilen) werden bis zum 31.7.2011 erbeten an:
Prof. Dr. Marc Föcking
Universität Hamburg
Institut für Romanistik
Von Melle-Park 6
20146 Hamburg
040-428382562
Sekretariat 040-428382560
Marc.Foecking@uni-hamburg.de
Publiziert von: Kai Nonnenmacher