Tagungen > Tagungsausschreibung

26.09.2008

"Die Konstruktion des Vergessens", int. Tagung d. UMR "Cultures et Sociétés en Europe"

  • Ort: Strasbourg
  • Beginn: 26.11.09
  • Ende: 27.11.09
  • Disziplinen: Medien-/Kulturwissenschaft
  • Sprachen: Sprachenübergreifend

Université Marc Bloch Strasbourg II

UMR 7043 „Cultures et Sociétés en Europe“

 

Call for Papers

Kolloquium: Die Konstruktion des Vergessens (26. und 27. November 2009)

 

Im Jahre 2009 erinnern wir uns an zwei bedeutende Ereignisse, welche die politische, wirtschaftliche und soziale Geschichte des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt haben, nämlich den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 und den Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa 1989/1990. Während das Ende des Zweiten Weltkriegs gemeinhin als Beginn des Kalten Kriegs betrachtet wird, markieren die politischen Revolutionen in den Ostblockstaaten vor zwanzig Jahren den Abschluss dieser historischen Epoche. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Politiker, Intellektuelle, Wissenschaftler, Künstler und vor allem die Opfer des Dritten Reichs die Menschen ermahnt, sich an die von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen zu erinnern (A. Assmann 2006). Seit 1989/1990 haben sich die osteuropäischen Länder ihrerseits darum bemüht, ihre kommunistische Vergangenheit nach 1945 zu (re-)konstruieren. Individuelles und kollektives Erinnern der Alltagsgeschichte wie der großen Geschichte scheinen somit seit einigen Jahrzehnten im Zentrum der Öffentlichkeit zu stehen.

 

Das „Zeitalter der Extreme“, wie E. Hobsbawm (2003) auch „das kurze 20. Jahrhundert“ bezeichnet hat, war von totalitären Systemen gekennzeichnet, welche die Erinnerung systematisch beherrschen und bis in die geheimsten Winkel kontrollieren wollten (T. Todorov 1995). Aber Erinnern und Vergessen stellen keineswegs einen Gegensatz dar: Erinnerung ist immer und notwendiger Weise als Interaktion zwischen Ausblenden und Bewahren zu verstehen. So verhält es sich auch mit dem Vergessen als einem selektiven und dynamischen Prozess: Wie die Erinnerung ist auch das Vergessen sozial konstruiert, es entsteht aus einem spezifischen Verhältnis zur Vergangenheit, es hat an den zahlreichen Neu- und Umschreibungen der Geschichte teil, es beugt sich den politischen Gepflogenheiten und den Legitimationsverfahren von Macht, es wird in manchen Fällen eine Überlebensstrategie und ein Wert, der die kollektive Identität einer Gruppe begründet (zum Beispiel der Sinti und Roma, wie I. Fonseca 1996 gezeigt hat). Wenn das Erinnern in zahlreichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Studien untersucht wurde, welche die Erinnerungswellen der letzten zwanzig Jahre begleitet haben (siehe die Arbeiten von F. Raphaël), so ist dem Vergessen, dem Schatten der Erinnerung, der stillen und unscheinbaren Kehrseite derselben, bislang weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden.

 

Es erscheint unabdingbar, die Art und Weise, wie die großen kollektiven Ereignisse im privaten und öffentlichen Raum ausgeblendet wurden, zu hinterfragen, zum Beispiel die diskreten Erinnerungen an den Kolonialismus, den Krieg, die Diktatur oder den Widerstand, wobei unterschiedliche Erinnerungsquellen herangezogen werden können: Familiennarrative, Fotoalben, Autobiografien, Schulbücher, Literatur, Kunst und Museen. Ebenso sollen das Fehlen von Gedenkfeiern, das Schweigen über historische Ereignisse und Personen, die Transmissionslücken zwischen den Generationen sowie negative Mythen eingehend analysiert werden. Wie L. Passerini (2003) gezeigt hat, kann das Vergessen die Form einer „erzwungenen Amnesie“ (wie der Algerienkrieg in Frankreich), aber auch die Form eines Gedächtnisspeichers annehmen, der einen Demokratisierungsprozess in Gang setzt (wie das partielle Ausblenden des Bürgerkriegs in der öffentlichen Debatte in Spanien nach 1978 [siehe P. Aguilar 1996] oder die Erinnerungsverbote im antiken Griechenland [siehe N. Loraux 1988]). Ebenso sollen die Lüge, die Amnesie, das Schweigen, das Ephemere, das Nicht-Informieren, die Verdrängung und die Mystifizierung untersucht werden. Dabei wird besonders der Frage nachzugehen sein, wie zwischen Erinnern und Vergessen eine „Grauzone“ entsteht, aus der Erinnerungen je nach Kontext und historischer Situation aktualisiert werden. So können institutionalisierte Erinnerungsformen in Wirklichkeit ganz bewusst eingesetzt werden, um zu vergessen, zum Beispiel die offizielle Bezeichnung ‚anti-faschistische Opfer’ in den Gedenkfeiern der Ostblockländer, wodurch die Erfahrungsvielfalt der Opfer eingeebnet wurde.

 

Im Rahmen des Kolloquiums sollen in einer transdisziplinären Perspektive diese unterschiedlichen Konstruktionsmodalitäten des Vergessens als Bestandteil des Erinnerns erforscht werden. Wir möchten Soziologen, Anthropologen, Historiker, Politologen, Psychologen, Literaturwissenschaftler, Kunsthistoriker und Museumswissenschaftler dazu aufrufen, alle Erscheinungsformen des Vergessens zu untersuchen. Die Kolloquiumssprachen sind Französisch, Englisch und Deutsch.

 

Die Veranstalter bitten darum, Vortragsvorschläge (Titel und ein Abstract von ungefähr 5000 Zeichen oder 800 Wörtern) bis zum 1. November 2008 einzureichen.

 

Die Reise- und Unterkunftskosten können leider nicht erstattet werden.

 

Contact:

Nicoletta Diasio: nicoletta.diasio@misha.fr

Klaus Wieland: Klaus.Wieland@umb.u-strasbg.fr

 

Von:  Klaus Wieland

Publiziert von: Kai Nonnenmacher