Lebensgeschichten erzählen. Zu einer Narratologie des Biographischen in der modernen Literatur
- Ort: Konstanz
- Beginn: 06.11.08
- Ende: 08.11.08
- Disziplinen: Literaturwissenschaft, Medien-/Kulturwissenschaft
- Sprachen: Sprachenübergreifend
Programm
Tagungsort: Universität Konstanz, Senatssaal V 1001, Universitätsstraße 10
Donnerstag, 06.11.2008
18.00 Uhr
Begrüßung
18.15 Uhr
Prof. Dr. Ansgar Nünning (Gießen)
Narrative und selbstreflexive Strategien (post-)moderner fiktionaler Biographien und Metabiographien
Prof. Dr. Martin Middeke (Augsburg)
Die Inszenierung der Ich-Werdung: Zur erzählerischen Dekonstruktion des Selbstentwurfs in James Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man
Freitag, 07.11.2008
9.00 Uhr
Prof. Dr. Dr. h.c. Gerhart von Graevenitz, Rektor der Univ. Konstanz
Grußwort
Prof. Dr. Cerstin Bauer-Funke (Essen)
Lebensgeschichten erzählen. Modelle der Aufarbeitung des Spanischen Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur im spanischen Gegenwartsroman
Prof. Dr. Christian von Tschilschke (Siegen)
Biographische Dokufiktion in der spanischen Literatur der Gegenwart: Juan Manuel de Prada und Javier Cercas
10.45 Uhr
Kaffeepause
11.15 Uhr
Prof. Dr. Alexander Honold (Basel)
Zerfahrene Lebenslinien. Über die Fragmentierung des Biographischen in Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob
Prof. Dr. Dirk Niefanger (Erlangen)
Zur Funktion von "Biographemen" im Gegenwartsroman
13.00 Uhr
Mittagspause
14.30 Uhr
Prof. Dr. Friedrich Wolfzettel (Frankfurt am Main)
"Se forger une légende": Biographisches Erzählen und Mythos bei Maxence Fermine
Prof. Dr. Patricia Oster-Stierle (Saarbrücken)
Lebensgeschichten entwerfen. Projekt und Biographie im Werk Jean Paul Sartres
Samstag, 08.11.2008
9.00 Uhr
Prof. Dr. Barbara Kuhn (Konstanz)
Das Vergessen erinnern: Orte und Nicht-Orte in W ou le Souvenir d'enfance von Georges Perec
Prof. Dr. Peter Kuon (Salzburg)
Das Leben eines Massenmörders: La mort est mon métier von Robert Merle (mit einem Ausblick auf Hannah Arendt und Jonathan Littell)
10.45 Uhr
Kaffeepause
11.15 Uhr
Prof. Dr. Renate Lachmann (Konstanz)
Fiktion und Dokument im Werk von Danilo Kiš
12.30 Uhr
Mittagspause
14.00 Uhr
Prof. Dr. Helga Schwalm (HU Berlin)
Lebensgeschichte und Topographie
Prof. Dr. Andrea Bartl (Bamberg)
Goethe als Flaneur. Hanns-Josef Ortheils Faustinas Küsse, Martin Walsers Ein liebender Mann und ein mögliches Paradigma biographischen Schreibens
19.00 Uhr
Abendvortrag mit Lesung:
Prof. Dr. Jürgen Link (Dortmund)
Wie kollektiv kann eine Biographie sein? Über das narrative "Wir"
Lesung aus seinem Roman (2008):
Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee
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Die Spanne zwischen Geburt und Tod, in die das Leben fällt, markiert eine quasi-natürliche und deshalb grundlegende temporale Ordnung für das Erzählen. Sie öffnet den narrativen Raum für eine Lebensgeschichte, die den Gang durch die verschiedenen Lebensalter verfolgt, die Verstrickungen in die Zeitläufte ausbreitet und Handlungen und Haltungen der Protagonistin/des Protagonisten festhält. Indem dadurch ein Charakter entworfen und die Kohärenzfiktion eines ,ganzen', richtigen oder sogar sinnvollen Lebens errichtet wird -- lange Zeit und oftmals noch heute als moraldidaktisches Exemplum --, zielen Lebensgeschichten weit über die möglichst realitätsnahe Darstellung eines Lebens hinaus auf einen kulturellen ,Mehrwert', der über Normen und Werte, Hierarchien und Institutionen, Symbolisierungen und Rituale Auskunft gibt. Lebensgeschichten situieren und konstituieren sich an der Schnittstelle zwischen personaler und kultureller Identität und machen so nicht nur ein individuelles Leben, sondern auch eine Kultur erzählbar. Deshalb kommt Lebensgeschichten seit dem Beginn der europäischen Literatur eine zentrale kulturelle Bedeutung zu.
Auch in der Moderne haben sich, allen Gewalten zum Trotz, Lebensgeschichten als Thema und als Form erhalten. Zwar haben sich die Bedingungen des Erzählens stark verändert -- durch eine beschleunigte, hochtechnisierte Lebenswelt, durch die Erfahrung der Kriege und der Shoah, durch die Entdeckungen der Psychoanalyse, etc. --, dennoch werden weiterhin Lebensgeschichten erzählt. Allerdings haben sich dabei die Formen stark gewandelt. Viel wurde experimentiert: Die geschlossene Form wurde aufgesprengt und fragmentarisiert; das ,Ganze' wurde als Falsches entlarvt und in eine beliebige Folge von Biographemen (Roland Barthes) aufgelöst; die einzelne Lebensgeschichte wurde verdoppelt oder vervielfacht zu parallel laufenden Erzählungen; sie wurden gebrochen, reflektiert und mit Metanarrationen versehen -- kurz: das reiche Formenpotential der modernen Literatur hat sich an Lebensgeschichten entzündet und wurde nicht zuletzt an ihnen entwickelt.
Die Tagung hat sich vorgenommen, eine Typologie des Erzählens von Lebensgeschichten in der modernen Literatur zu erstellen und verfolgt damit das Ziel, einen Formenkatalog zusammenzustellen, in dem sich das Erzählen von Lebensgeschichten unter den Bedingungen der Moderne zeigt. Das verbindende Element, das alle diese Formen zusammenschließt, besteht in der Grundeinsicht, daß Lebensgeschichten zu allererst Narrationen sind. Sie stellen Effekte dar, die sich erst aus dem Akt der Narration ergeben und besitzen daher eine performative Qualität.
Die thematisierten Fallbeispiele reichen von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart und behandeln Texte, die von der fiktionalen Biographie, dem biographischen Roman bis hin zur Form der fiktiven Autobiographie die Vielfalt biographischen Erzählens widerspiegeln und dabei auch Themen wie Metafiktion und Metanarration des Biographischen nicht aussparen. Aus der Perspektive einer Narratologie des Biographischen unternimmt die Tagung den Versuch, die Gemeinsamkeiten in der Vielzahl der Formen biographischen Schreibens herauszustellen und damit der künftigen Forschung neue Denkanstöße aus literaturwissenschaftlicher Sicht für das weite, mithin unübersichtliche Forschungsfeld zu liefern.
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Informationen zur Tagung:
Susanne Krepold: susanne.krepold@ku-eichstaett.de
Organisation
Prof. Dr. Bernd Stiegler, PD Dr. Peter Braun, Susanne Krepold, Christian Krepold, Norbert Wichard, M.A., Martin Stöckinger
Veranstaltet von der Fachschaft Neuphilologie des Cusanuswerks (Bonn) und der Universität Konstanz mit freundlicher Unterstützung des Exzellenzclusters 16 der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Publiziert von: jd