"Warum Lyrik? Gedichte und Lieder als bevorzugte Ausdrucksformen in den Kontroversen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (1400–1600)"
- Ort: Kiel
- Beginn: 02.07.09
- Ende: 04.07.09
- Disziplinen: Literaturwissenschaft
- Sprachen: Sprachenübergreifend
- Frist: 08.08.08
Call for Papers – Tagung in Kiel vom 2. bis 4. Juli 2009
Warum Lyrik?
Gedichte und Lieder als bevorzugte Ausdrucksformen in den Kontroversen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (1400–1600)
Wenn es darum geht, die eigene Meinung in einer Kontroverse kundzutun und das Publikum von dieser Meinung zu überzeugen, scheinen die Autorinnen und Autoren des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit eine besondere Vorliebe für das Gedicht oder Lied als Ausdrucksform zu bekunden. Davon überzeugt, dass bestimmte sprachliche Mittel in Texten genau definierten Zielen dienen, untersuchte traditionellerweise die Rhetorik und vor einigen Jahren die Pragmalinguistik Texte auf ihre Wirkung hin. Die grundsätzliche Frage nach dem spezifischen Beitrag der lyrischen Texte wurde jedoch nie gestellt: Warum wurden Gedichte und Lieder besonders oft für die Verteidigung und Veröffentlichung eines Standpunktes verwendet? Hier schließt sich eine zweite Frage an: Was hat die auffällige Multimedialität lyrischer Texte in Druck oder Handschrift, auf Flugblättern oder Plakaten, in schriftlicher oder mündlicher Form, in öffentlichem Vortrag oder privater Lektüre für Auswirkungen auf die Gestaltung einer Kontroverse?
Die Tagung will diesem Phänomen der lyrischen Kontroverse auf den Grund gehen. Denn zahllose volkssprachige und lateinische Gedichte und Lieder stammen aus einem von Kontroversen geprägten Kontext – nicht zuletzt aus der Reformation. Inwiefern kann und will etwa Luther sein Lied über die beiden gelynchten Augustinermönche auch als Mittel gebrauchen, um seine Lehre zu verbreiten? Und warum werden zur gleichen Zeit in den Niederlanden Prosaromane verfasst, die die wichtigsten Gedankengänge in Gedichtform präsentieren? In der Vergangenheit haben literaturwissenschaftliche Studien sich mit den großen Konflikten des Mittelalters sowie mit der Theorie der Kontroverse beschäftigt (Bremer; Hollaar; Pleij; Spoerhase; Winkler). Dabei ging es jedoch nur selten um den spezifischen Beitrag der lyrischen Form zur Gestaltung solcher Kontroversen, ebenso wenig wie um die Strategien, mit denen die Autoren ihre Leserschaft damit zu überzeugen versuchen (wichtige Ansätze liefern Barner und Goldenbaum).
Entgegen dem Schwerpunkt der bisherigen Forschung beschränkt sich die Tagung nicht auf die Kontroversen der Reformation. Ganz im Gegenteil interessieren uns solche, die sich vielleicht nur auf lokaler Ebene zugetragen haben, die nur von ephemerer Bedeutung waren oder die sich nur zwischen einigen wenigen Personen abspielten. Es geht um politische, gesellschaftliche und religiöse Fragen, die im großen internationalen oder kleinen lokalen Kreis, aber immer in Form von Gedichten oder Liedern diskutiert werden: etwa bei den Meistersingern, bei den Rederijkers, in der Devotio Moderna oder bei Gelegenheitsdichtern. Im Mittelpunkt steht die Form, in der Meinungen ausgetauscht, Ideen publiziert, Ereignisse kommentiert und Kontroversen ausgetragen werden. Wir fragen, welches Instrumentarium den Autoren dafür zur Verfügung stand und inwiefern auch innerhalb von Kontroversen bestimmte sprachliche Mittel (weiter-)entwickelt und gebraucht wurden. Ziel der Tagung ist es, Antworten auf die Frage zu finden, was die besondere Leistung der lyrischen Form ist, die keine andere literarische Gattung erbringen kann: ›Warum Lyrik?‹
Es ist unabdingbar, sich diesem Thema interdisziplinär zu nähern. Die Tagung richtet sich deshalb an Literaturwissenschaftler der verschiedenen europäischen Sprachen, aber auch an Musik-, Sprach-, Kirchen- und Philosophiehistoriker.
Folgende vier thematischen Schwerpunkte sind vorgesehen:
I. Medien der Kontroversen
Hier geht es um die Art und Weise, wie sich der Autor mit aktuellen Ereignissen auseinandersetzt, aber auch um die Wirkung, die er mit seinen Gedichten erzielen konnte. An welcher (religiösen, politischen, gesellschaftlichen) Debatte nimmt er teil? Für welche Form der Lyrik entscheidet er sich dabei, und mit welchem Ziel? Soll der Text gelesen oder vorgetragen werden, gesungen oder gesprochen? Und was ist der Effekt auf das Publikum; inwiefern übte der Text Einfluss aus auf die Debatte?
II. Personalisierung der Kontroversen
Dieser Schwerpunkt beschäftigt sich mit der Interaktion von Autoren in der Debatte. Welche Gedicht-Autoren haben, vielleicht auch über Landesgrenzen hinweg, miteinander Kontakt gehabt und in welcher Form? Wie und über welche Themen haben sie sich ausgetauscht? Was sind die Hintergründe für ihre Auffassungen über bestimmte Themen? Wie sind Diskussionen verlaufen: Gibt es Briefwechsel oder andere Dokumente, welche etwas über die spezifische Rolle der Lyrik in deren Verlauf aussagen?
III. Formale und argumentative Prinzipien der Kontroversen
Thema sind hier die technischen Aspekte eines Gedichts. Im Mittelpunkt stehen die formalen und argumentativen Strategien, die ein Autor verwendet, um seinem Text Struktur und Überzeugungskraft zu verleihen. Welche Argumente benutzt er, und mit welchen sprachlichen Mitteln präsentiert er sie seinen Lesern? Ist die Argumentation vernünftig, sachlich und moralisch vertretbar? Oder ist sie das genaue Gegenteil: Polemik, die ganz ohne stichhaltige Beweise auskommt. Und was gilt eigentlich als stichhaltiger Beweis?
IV. Reprisen der Kontroversen
Öffentliche Debatten bleiben oft nicht auf einen einzigen Anlass beschränkt. In diesem Schwerpunkt geht es daher um die Rezeption der dichterischen Beiträge zu den Kontroversen sowohl durch Zeitgenossen als durch spätere Generationen. Es geht um veränderte Auffassungen und um eine veränderte Funktion desselben Gedichts in der neuen Kontroverse. Inwiefern ist die ursprüngliche Autorschaft von Belang in der aktuellen Debatte? Wurden die Gedichte nachgedruckt, kommentiert oder auf den Index gesetzt? Inwiefern beeinflussen die Akzentuierungen des Gedichts zur alten Kontroverse die Art und Weise, wie die neue geführt wird?
Bitte senden Sie Ihren Vortragsvorschlag bis spätestens 8. August 2008 an Judith Keßler. Neben den üblichen Angaben (Name, Anschrift, Telefonnummern, Vortragstitel) erbitten wir als Anlage ein ein- bis zweiseitiges Exposé, aus dem die Fragestellung, das Textkorpus, die Methode und die Verortung des Beitrages innerhalb des Generalthemas ›Warum Lyrik?‹ und der skizzierten Schwerpunkte ersichtlich sind. Tagungssprachen sind Deutsch und Englisch.
Wir planen einen Tagungsband. Das Abgabedatum für die Aufsätze wird der 31. Oktober 2009 sein. Die Tagung findet unter Finanzierungsvorbehalt statt.
Prof. Dr. Ursula Kundert (Christian-Albrechts-Universität Kiel, D)
Prof. Dr. Johan Oosterman (Radboud Universiteit Nijmegen, NL)
Drs. Judith Keßler: J.Kessler@let.ru.nl (Radboud Universiteit Nijmegen, NL; auch für Rückfragen)
Publiziert von: Kai Nonnenmacher